Respondenz-Kritik zu „Miss Hokusai“ (J 2015) von Katharina Görgen

Katharina Görgen und Peter Scheinpflug teilen sich seit geraumer Zeit ein gemeinsames Büro und lieben Filme über alles – nur nicht dieselben Filme. Dafür streiten sie sehr gerne. Und daher schreiben sie Kritiken zu denselben Filmen. Viel Spaß beim Lesen!

„Miss Hokusai“ erzählt ein Leben mit Lücken und vergibt dadurch die große Chance mehr zu sein als die Bebilderung eines nur bruchstückhaft überlieferten Lebens. Die als Gegenerzählung angelegte Geschichte möchte das Leben O-Eis, der Tochter des berühmten Malers Hokusai erzählen und kommt doch nicht ohne den exzentrischen Künstler aus. Nun könnte man argumentieren, dass dieser ihr Leben mit Sicherheit ebenso dominiert hat wie diesen Film, aber damit hätte sich das Argument der Gegenerzählung gegen die großen Narrative der Geschichte erübrigt. Und es ist ein Gegennarrativ von der Tochter des Meisters zu erzählen, die ihr Leben an seiner Seite verbrachte und wohl zahlreiche der Bilder gemalt hat, die ihrem genialen Vater zugesprochen werden. Dieser, so erzählt es uns Keiichi Hara in seinem Film, war sich seines Genies stets bewusst und nicht bereit seine Genialität hinter Alltagsbanalitäten wie eine Familie und seine Kinder anzustellen. Das kann man als Meditation über das Wesen des Genies lesen, man kann es aber auch als Zeugnis männlicher Egomanie verstehen, verortet in einer Zeit, in der sich Männer für wenig und einflussreiche Männer für gar nichts rechtfertigen mussten. Dass Tesuzo die Geister fremder Frauen durch seine Kunst zu bändigen weiß, aber seine blinde Tochter nicht besucht, obwohl deren Seelenheil im wahrsten Sinne des Wortes davon abhängt, kann mit seiner Angst vor der Konfrontation mit der größten Gefahr für einen Maler – dem Verlust des Augenlichts – erklärt werden oder auch nur mit persönlichen Desinteresse an einem Kind, das niemals in seine Fußstapfen treten wird. Dabei zeigt es vor allem die Engstirnigkeit des Mannes, der ohne Mühen Geishas für sich gewinnt. Denn seine Tochter O-Ei, die eigentliche und gleichzeitig vergessene Heldin des Films, demonstriert eindrücklich, wie einfach sich der Zugang zu dem blinden Mädchen finden lässt und welch neue Perspektiven auf die Welt sich durch dieses offenbaren. Wenn die beiden mal wieder am Lieblingsort der blinden Schwester auf der größten Brücke des historischen Tokios stehen, erhören und erriechen sie sich die Vielfalt der Stadt. Dass die jüngere auch bereit ist dies in Anwesenheit ihrer älteren Schwester auf einem Boot zu tun, zeigt, dass sie ihr genug vertraut, um den Boden unter den Füßen zu verlieren, wenn diese bei ihr ist. Es ist daher nur konsequent, dass der Film mit dem Tod der kleinen Schwester endet, da er in letzter Instanz ganz à la „Malificent“ und  “Frozen“ die Liebesgeschichte zwischen zwei Schwestern erzählt. Nur bleiben diese in „Miss Hokusai“ Nebenfiguren, da der Film sich nicht traut ausschließlich auf die kleine Geschichte der Schwestern zu setzen. Diese Geschichte wäre auch ohne die „Meditationen über die Kunst“ ausgekommen, zumal sie in sich bereits einen Kontrapunkt hierzu erzählt. Denn anders als der Vater, der sensibel ist für die Fabelwesen und Geisterwelten, die er auf seinen Bildern festhält, reicht der Tochter die Beziehung zu ihrer Schwester, um ein Motiv zu finden, das sie vom übermächtigen Vater abgrenzt. Eine Beziehung, die dem Vater die Mühe nicht wert ist sie aufzubauen, so dass seine Tochter in dem Bewusstsein stirbt für ihr Versagen ihm zu gefallen in die Hölle zu kommen. In dieser Tragik offenbart sich die Bedeutungslosigkeit wie die Stärke der weiblichen Figuren des Films gleichermaßen. Denn während es der Sterbenden vollkommen klar ist, dass die Liebe ihrer Schwester nicht wird ausreichen können, um ihr den Zugang zum Himmel zu öffnen, hat besagte Schwester ihr auf Erden nichts weniger als diesen geschenkt. Denn im Gegensatz zum exzentrischen und von der Welt gefeierten Vater hatte O-Ei die Größe sich der Blindheit ihrer Schwester zu stellen und genug Fantasie, um andere Gemeinsamkeiten mit ihr zu finden. Eine Fantasie, die dem großen japanischen Meister gefehlt zu haben scheint. Dessen wissen um die Komposition eines Bildes sieht vor, dass es immer einen Gegenpunkt oder Hoffnungsmoment geben muss. Im Fall des Höllengemäldes übernimmt dies ein kleiner strahlender Buddha. Es wäre dem Film „Miss Hokusai“ und vor allem der unbekannten Tochter des Hokusais zu wünschen gewesen, dass der Film den Mut hat dieses Verhältnis umzudrehen und dem übermächtigen Vater nur die Funktion des kleinen Buddhas zu geben, der in der Komposition an für sich keine Bedeutung hat, sondern durch seine Anwesenheit den Rest des Gemäldes ermöglicht. Dieses hätte in großen und fantastischen Strichen die Lücken im Leben der Künstlerin füllen können und sie so zu mehr machen können als Miss Hokusai.

Katharina Görgen