Respondenz-Kritik zu „THE ASSASSIN“ (TW/CH/HK/F 2015) von Katharina Görgen

Katharina Görgen und Peter Scheinpflug teilen sich seit geraumer Zeit ein gemeinsames Büro und lieben Filme über alles – nur nicht dieselben Filme. Dafür streiten sie sehr gerne. Und daher schreiben sie Kritiken zu denselben Filmen. Viel Spaß beim Lesen!

Yinniang, eine junge Frau, wird Opfer einer Intrige, was sie unverschuldet zu einer Killerin macht anstatt zu einer im Luxus lebenden Ehefrau eines einflussreichen Gouverneurs. Zu Recht hebt Peter Scheinpflug hervor, dass dieser Plot durchaus eines Melodramas würdig gewesen wäre. Dass der Film sich weder für ein solches noch für einen actionreichen und genretypischen Rachefeldzug, wie ihn der Westen durch KILL BILL (US 2003/4; R: Quentin Tarantino) kennengelernt hat, entscheidet, macht seine Stärke aus. Denn die um ihr Leben Betrogene verweigert sich der emotionalen Verarmung, die für ihre Ausbilderin, die Nonne/Killerin, das ultimative Ziel darstellt. Um diese zu erzwingen, schickt die Nonne ihre Schülerin los, um den Mann zu töten, der ihrer Elevin einst zum Mann versprochen war. Mit ihm, so hofft die grausame Ausbilderin, verschwänden automatisch alle Träume, Ambitionen und Emotionen ihrer hochbegabten Schülerin.

Yinniang reist daher zurück in ihre Vergangenheit, an der sie nur noch als Schattenfigur teilhaben kann. Aus den Schatten tritt sie ganz in schwarz gekleidet hervor, mit ihnen verschmilzt sie nach Belieben wieder. Die satten Farben der rechtmäßigen Ehefrau bleiben ihr verwehrt. In der einzigen Szene, in welcher ihre Familie sie in aufwendige Roben kleidet, bleibt sie emotionslos distanziert. Ihr Leben, das ist jetzt die Kampfkunst, die sie wie kaum ein/e andere/r meistert. In ihren Kampfszenen ist sie so unaufgeregt überlegen, so minimalistisch emotionslos, dass ihre wahre Größe nicht ignoriert werden kann.

Während der Film das Leben insgesamt als unberechenbar und durchlässig inszeniert – unter anderem zelebriert durch zahlreiche Dialogszenen hinter wehenden Stoffbahnen –, steht Yinniang aufrecht und unbeirrt. Folgerichtig ist es ihr problemlos möglich, die bösen Schatten zu besiegen, die instrumentalisiert wurden, um eine schwangere Geliebte zu eliminieren. Selbst eine Kreatur der Schatten, mehr gefürchtet als geliebt, vereitelt sie den unfairen Übergriff. Damit demonstriert sie nicht nur ihre mentale Überlegenheit, sondern auch ihre seltene Bereitschaft, Position zu beziehen. Sie stellt sich auf die Seite der mitfühlenden Geliebten und schützt sie und ihr ungeborenes Kind, ohne damit Hoffnung auf ein eigenes, privat erfülltes Leben zu verbinden. Ein Akt der Selbstlosigkeit von einer Person, der selbst nie ein solcher widerfahren ist.

Auch gegen ihre Meisterin bezieht sie letztendlich Position. Diese hat sich bildgewaltig auf einem Berg platziert, wo Nebelschwaden über und durch sie hindurch aufsteigen. Doch Yinniang hält es weder an diesem Ort des permanenten Übergangs noch im Bann der Meisterin. In einem letzten, unspektakulären Kampf befreit sie sich von ihrer Ausbilderin und damit auch von der Vergangenheit, die andere für sie geschrieben haben. Diese Weigerung, ein Opfer der Umstände zu werden, ein rächendes, gequältes und von längst vergangenen Ereignissen bestimmtes Wesen, macht THE ASSASSIN zu einer beeindruckenden Emanzipationsgeschichte.

Katharina Görgen