Respondenz-Kritik zu „CAPTAIN FANTASTIC“ (USA 2016) von Peter Scheinpflug

Katharina Görgen und Peter Scheinpflug teilten sich für geraume Zeit ein gemeinsames Büro und lieben Filme über alles – nur nicht dieselben Filme. Dafür streiten sie sehr gerne. Und daher schreiben sie Kritiken zu denselben Filmen. Viel Spaß beim Lesen!

Die Utopie, die CAPTAIN FANTASTIC vorführt, ist eigentlich nicht mehr als eine Ausgestaltung der Vorspann-Sequenz von COMMANDO (USA 1985). Und auch in seiner Politik unterscheidet er sich letztlich kaum vom Actionklassiker mit Arnold Schwarzenegger als liebevollem, alleinerziehendem Vater mit hard body.

Wie einst Alyssa Milano als Film-Tochter von Arnold Schwarzenegger lernen auch die Kinder von Captain Fantastic, gespielt von einem wie immer brillanten Viggo Mortensen, wie man Tiere des Waldes erlegt, wie man sich selbst verteidigt und wie man in ‚Harmonie‘ mit der Natur lebt. Ein Reh, das aus Arnies Hand frisst, fehlt freilich in CAPTAIN FANTASTIC. Der Film ist zwar zum Brüllen komisch, aber er will ganz im Stil gängiger US-Independent-Produktionen als hochpolitische Satire ernstgenommen werden. Dabei darf freilich auch die für diese Art US-amerikanischer Film obligatorische Selbstkritik nicht fehlen: Und so werden beispielsweise der Vater als Fanatiker und die Kinder als hochgebildete Freaks perspektiviert. Diese plakative Problematisierung der Aussteigerutopie und der ihr zugrunde liegende Ideologie verdeckt jedoch, dass sie dennoch bis zum Schluss so romantisierend überzeichnet ist, dass diverse ihrer gravierendsten Verwerfungen nie thematisiert werden:

Beispielsweise überrascht doch, wie archaisch das Initiationsritual am Anfang des Filmes ist, bei dem der älteste Sohn ein Tier erlegen und dessen Herz essen muss, um – Achtung! – zum Mann zu werden. Also zum aggressiven Jäger und Ernährer, oder in den Worten des Vaters: „a man“. Ob es sich bei den Frauen ebenso verhält oder ob diese andere, mit Blick auf die Genderkonzepte: ähnlich konservative Initiationsriten haben, erfahren wir leider nie.

Glücklicherweise sucht der älteste Sohn am Ende schließlich sein eigenes Glück in Namibia. Wie der Dialog mit dem Vater zugleich verdeckt, da das Thema als Scherz verkauft wird, und eben auch im Gewand des Komischen offen anspricht, wird der Sohn dort freilich auch seine ersten sexuellen Erfahrungen machen wollen. Damit löst der Film das Problem, wie die Aussteiger-Utopie eigentlich mit der Pubertät und der sexuellen Aktivität der Kinder hätte umgehen wollen. Wie das hätte aussehen können, wenn die Eltern auf der Abschottung ihrer Familie von der Außenwelt beharren, hat uns erst kürzlich DOGTOOTH (G 2009) überaus schockierend vor Augen geführt. Oder anders: Es wäre wohl so heiter wie bei Disneys DER KÖNIG DER LÖWEN (USA 1994) geworden, in dem Nalas und Simbas Glück als Liebende und Eltern ja auch nicht dadurch getrübt werden kann, dass es immer nur einen König der Löwen gegeben hat. Falls es wider Erwarten überhaupt sexuelle Aufklärung in der Utopie gegeben haben sollte – obwohl das peinliche Verhalten des ältesten Sohnes dies wenig nahelegt und dafür für allerlei herzhafte Lacher sorgt –, müsste sie wohl wie in Monty Pythons DER SINN DES LEBENS (UK 1983) abgelaufen sein.

In einer extrem suggestiv montierten Sequenz in einem Diner, vor dessen Fastfood und „poison water“ (Coca-Cola) der Vater seine davon total angefixten Kinder wird retten müssen, werden übergewichtige Amerikaner ohne Gesichter, das heißt ohne Individualität gezeigt. Die Kinder vergleichen sie in einem unüberhörbar herablassenden und angewiderten Ton mit „hippos“, mit Flußpferden. In einer früheren Szene fragt sich eine der Töchter ebenso verwundert wie ratlos, warum alle Menschen in einer Bankfiliale so unglücklich aussähen. Unfraglich läuft etwas schief in Amerika. Das ist jedoch keine Kritik an Amerika schlechthin.

Denn die Kinder von Captain Fantastic, und der Titel impliziert dies bereits, werden zu guten Amerikanern erzogen: Die Familie lebt als autonome Community wie einst die ersten Siedler. Wenn das Geschirr in der Sonne trocknet, aus Fellen und Häuten Kleidung gemacht und abends mit Gitarre am Lagerfeuer die Familieneinheit zelebriert wird, dann schreit das nach ‚guter alter‘ frontiership. Militarismus und Survival sind in den USA Mainstream-Phänomene, Captain Fantastic und seine Kinder betreiben das alles eben nicht nur an Wochenenden. Wenn ihnen ein neues Messer oder ein neuer Bogen geschenkt wird, ist ihre Freude geradezu manisch und sie prahlen mit ihrem Fachwissen, das dem von Waffenfanatikern in nichts nachsteht. Wenig verwunderlich, geht es dann im Wettstreit der zivilisierten, dummen, X-Box spielenden Kinder mit der jüngsten Tochter von Captain Fantastic ausgerechnet um die Bill of Rights und die Frage, warum die USA nicht nur freier, sondern mithin besser als China sind. Der Film spielt das gute, gesunde, gebildete Amerika gegen das böse, übergewichtige, ignorante Amerika aus. Nach der Finanzkrise scheint die Devise zu lauten: Back zu the roots! Das richtige Amerika lebt den Geist des frontiership. Weiter als bis zur autonomen Farm reicht denn auch nicht der finale Kompromiss von Captain Fantastic. Oder hieß er doch Captain America?

Man kommt dabei nicht ganz umhin, sich zu fragen, wie die Familie wohl aussähe, wenn der Vater kein Übermensch wäre, der von Hausarbeit über Jagd und Kampfkunst bis hin zu Philosophie und Quantenphysik alles perfekt beherrscht. Wäre dem nicht so und wäre er kein Humanist, gliche die Familie wahrscheinlich eher den Sawyers aus den Texas-Chainsaw-Massacre-Filmen. Die Besetzung des Vaters mit Viggo Mortensen ist hier freilich ein besonderer Clou, da er einen Spross der mordenden Kannibalenfamilie in LEATHERFACE – TEXAS CHAINSAW MASSACRE III (USA 1990) gespielt hat. Sich am Kapitalismus rächen und Leichen ausbuddeln, tut allerdings auch die vorgeblich humanistisch eingestellte, aber total in Survival (of the fittest) und Waffen vernarrte Familie von Captain Fantastic.

Freilich, der Film ist ebenso intelligent wie witzig wie herausragend gespielt – und Steve Zahn darf endlich wieder beweisen, dass er mehr als nur den Spaßvogel mimen kann –, aber das Ende gerät zu kitschig und zu viele Schattenseiten der Aussteigerutopie werden ausgeblendet. Dass dies durchaus gewollt ist, legt uns einmal mehr der Film selbst nahe: In einer Szene, die nebenbei auch noch wunderbar den Unterschied zwischen Inhaltsangabe und Analyse erklärt, schildert die Tochter ihr Lese-Erlebnis des Skandalromans LOLITA: Der Protagonist sei ob seiner Pädophilie zwar verabscheuungswürdig, aber zugleich in seiner naiven Romantik Mitleid erregend. Ähnlich verhält es sich mit CAPTAIN FANTASTIC, dessen Protagonist eigentlich ein Tyrann, der mit aller Strenge seine Utopie dogmatisch lehrt, aber zugleich eben auch ein sympathischer Träumer und Idealist ist. Wahrscheinlich wirkt er daher auch am Ende des Films, wenn er zum Wohle seiner Kinder einen Kompromiss für ihr gemeinsames Leben eingeht, so trist und langweilig. Insofern ist der Film ein grandioses Lehrstück über die Faszinationskraft des Extremismus und dessen Verklärung – gleich welcher Couleur.

Peter Scheinpflug