Kritik zu „DILWALE“ (Indien 2015) von Peter Scheinpflug

Katharina Görgen und Peter Scheinpflug teilten sich für geraume Zeit ein gemeinsames Büro und lieben Filme über alles – nur nicht dieselben Filme. Dafür streiten sie sehr gerne. Und daher schreiben sie Kritiken zu denselben Filmen. Viel Spaß beim Lesen!

Katharina Görgen hat es geschafft, mich in eine Sondervorstellung des Bollywood-Films DILWALE im Off-Broadway zu schleppen. Ich entschuldige mich nachträglich bei allen, denen ich durch mein anhaltendes, schallendes Lachen das Mitleiden verleidet habe!

Mit Bravour und Bombast übererfüllt DILWALE einfach alle Erwartungen, die man an einen Bollywood-Megahit richten könnte – zumindest wenn man sein Wissen vor allem durch RTL 2 gewonnen hat:

Es gibt eine ganz einfache, aber überaus tragische Geschichte: Der Sohn und die Tochter zweier verfeindeter Gangsterbosse verlieben sich – aber, hey, es ist ja auch schon wieder ein Shakespeare-Jahr! Durch unglückliche Umstände gerät sie in den Glauben, dass er ihren Vater erschossen habe und erschießt ihn – mutmaßlich. Dummerweise verliebt sich 15 Jahre später sein jüngerer Bruder in ihre jüngere Schwester und das Schicksal nimmt seinen Lauf…

Es gibt klare politische Botschaften: keine Macht den Drogen!

Es gibt zwei Hälften, in denen verschiedene Genres dominieren: zunächst Gangstermelodrama, dann Romcomelo.

Melodrama ist der alles beherrschende Erzählmodus mit einem die Sinne und den Verstand überwältigenden Exzess an Gefühlen, Farben, Zeitlupen, Dilemmata und vor allem Länge.

Es gibt sowohl bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel als auch in geschlossenen Innenräumen unverhofft aufbrausende Winde, die Haare und Hemden aufwerfen.

Es gibt Männer, die sich immerzu betatschen und liebkosen, aber keinen einzigen – heterosexuellen – Kuss.

Es gibt eine Dramaturgie und Bildsprache vom Niveau einer RTL-Daily-Soap oder eines Super-Bowl-Werbespots. (Dafür ist der Film ideal zur Einübung von Laien in Filmsprache und visuelle Metaphern!)

Es gibt Einstellungen und ganze Szenen, die 1:1… ‚adaptiert‘ wurden. In diesem glücklichen Fall dient jedoch ein großer Meister als Vorbild: John Woo. So gibt es diverse Anspielungen auf dessen Stil, die ebenso unübersehbar sind wie die Schar an Tauben, die immer wieder in Zeitlupe das Bild füllen. Dazu gibt es auch viele (noch) ‚direktere‘ Zitate, die den Meister des bullet ballet zelebrieren: etwa einen Shah Rukh Khan, der wie einst Chow Yun-Fat mit Feuerwaffen in Zeitlupe durch die Luft gleitet, eine Verfolgungsjagd im Stil von FACE/OFF oder eine famose Re-Inszenierung der virtuos montierten, berauschenden Autoverfolgungskabbelei aus MISSION IMPOSSIBLE II. Und so ein bisschen will man mit Blick auf das gemeinsame Genre – transkulturell, kulturunsensibel hier als Gangstermelodrama bezeichnet – und die vielen gemeinsamen Themen wie Brüderlichkeit, Ehre, Loyalität, Glauben und Fatalismus auch wirlich hoffen, dass DILWALE dem Œuvre von John Woo damit einfach nur ebenso liebevoll wie inbrunstig huldigen will.

(Für Serienjunkies: Es gibt auch eine Adaption des 2-Minuten-Dates aus HIMYM ― nur eben in Bollywoodlänge 😉

(Jetzt für die Hardcore-Actionfans: Bei all den ‚Zitaten‘ wundert man sich dann aber doch, warum Shah Rukh Khan bei einer Verfolgungsjagd, bei der er von zwei Autos in die Zange genommen wird und wie Castor Troy mit einer vergoldeten Pistole bewaffnet ist, sich nicht wie einst McBain behilft!)

Ohne Frage gibt es aber vor allem kolossale Bildkompositonen und atemberaubende Musical-Sequenzen, bei denen Busby Berkeley seinen Heidenspaß gehabt hätte.

Und so überbordend die, freilich, ganz großen Gefühle auch inszeniert sind, so kann man sich der ungeheuren Kraft von DILWALE auf Dauer doch nicht erfolgreich widersetzen und wird unweigerlich ob seiner allumfassenden ‚Intensität‘ von einer wohligen Gänsehaut ergriffen, wenn Regen und Zeitlupe bar jeder Logik und Plausibilität zum Auftakt des nächsten erschütternden Gefühlsausbruches einsetzen.

Egal ob man DILWALE als zutiefst ergreifende Odyssee der Gefühle oder aber, wie ich, als campy Guilty Pleasure rezipiert: Es handelt sich dabei wirklich um einen überaus grandiosen, die Sinne überwältigenden und durchweg außerordentlich vergnüglichen Bollywood-Film!

Leider verärgerte mich dann aber eines doch außerordentlich bei DILWALE: die unangebrachte, ungeheuerliche Gewaltverherrlichung: Da drischt der Held als Retter und Rächer wie ein Amalgam aus Jackie Chan und Bud Spencer auf seine Gegner ein. Wie einst die Knochenbrüche in frühen Steven-Seagal-Filmen (zumindest auf der Originaltonspur) übertönen die brachialen Schläge nicht nur alles, sondern das ganze ist in DILWALE auch noch so rhythmisch komponiert, dass Shah Rukh Khans Fist of Fury eine eigene musikalische Qualität gewinnt. Der Zorn des Khan blendet nicht nur jedes Leiden aus, sondern hyperästhetisiert die Gewalt so zu einer weiteren Musiknummer des Films. Das ist leider wenig kunstvoll und überaus geschmacklos.

Peter Scheinpflug