Kritik zu „THE ASSASSIN“ (TW/CH/HK/F 2015) von Peter Scheinpflug

Katharina Görgen und Peter Scheinpflug teilen sich seit geraumer Zeit ein gemeinsames Büro und lieben Filme über alles – nur nicht dieselben Filme. Dafür streiten sie sehr gerne. Und daher schreiben sie Kritiken zu denselben Filmen. Viel Spaß beim Lesen!

Als hätten Caspar David Friedrich und Rembrandt gemeinsam einen Wuxia-Film vollbracht:

Die Tradition des wuxia pian (ein von der chinesischen Literatur inspiriertes Filmgenre) ist wahrlich reich an poetischen Meisterwerken: Bereits EIN HAUCH VON ZEN (TW 1971; R: King Hu), der vielen als Begründungstext der bis heute iterierten Konventionen des Filmgenres gilt, vereinte kunstvoll arrangierte Action mit poetischer Filmsprache. Selbst noch diejenigen Genrevertreter, die wie ZU: WARRIORS FROM THE MAGIC MOUNTAIN (HK 1983; R: Hark Tsui), A CHINESE GHOST STORY (HK 1987; R: Siu-Tung Ching), MEISTER DES SCHWERTES (HK/TW 1990; R: King Hu et al.) oder DAS UNBESIEGBARE SCHWERT (HK 1993; R: Ronny Yu) die genretypische Verquickung von Kampf- und Filmkunst ins wahrhaft Phantastische überhöhen, sind dabei weiterhin durch die großen Themen des Genres wie Loyalität, Gerechtigkeit, Ehre und Liebe beseelt. Mit Autorenfilmen wie TIGER & DRAGON (TW/USA/CH/HK 2000; R: Ang Lee), HERO (HK/CH 2002; R: Yimou Zhang), aber auch der Redux-Version von ASHES OF TIME (HK/TW 1994/2008; R: Kar-Wai Wong) erreichte das Genre jüngst einen künstlerischen Höhepunkt. Wie sollte ein Film jemals in absehbarer Zeit diese Pracht, Grazie und Poesie übertreffen können? Hsiao-Hsien Hou ist es mit THE ASSASSIN gelungen.

Dies ist umso erstaunlicher, als der Film so ziemlich alles anders macht als die gerade erwähnten Vorgänger: Statt monumentaler Breitwandbilder ist der Film bis auf eine Szene in dem heute quasi ungebräuchlichen Format 1,4:1 gedreht. Statt mit schwerelos anmutenden Kamerabewegungen und einer Montagekunst, die alle Naturgesetze lustvoll aufhebt, erzählt der Film in ebenso ruhigen wie geerdeten Bildern – oft in besinnlichen Plansequenzen. THE ASSASSIN verzichtet damit vollends auf die Ästhetik, für die das Hong-Kong-Kino weltweit berühmt ist und von Cineasten verehrt wird. Doch gerade das ist die Stärke des Films, der sich querstellt zu den unzähligen ebenso kolossalen wie seelenlosen Historien-Schlachten-Filmen, die Hong-Kong und China seit rund 10 Jahren unermüdlich hervorbringen.

Bereits die erste Sequenz zeigt, wie anders THE ASSASSIN ist: In edlen Schwarz-Weiß-Bildern mit hohem Kontrast bei Helligkeit und Schärfentiefe schildert der Film, wie die Protagonistin im heimlichen Vorbeigleiten ihr Ziel mit einer einzigen grazilen, geradezu geringfügig erscheinenden Bewegung tötet. Die Bilder selbst wirken ebenso unaufdringlich, unbeschwert und auf das Allernotwendigste reduziert. Dabei hätte die Handlung des Films spielend als pompöses Melodrama erzählt werden können, bei dem nur Unmenschen trockene Augen hätten bewahren können: Eine Killerin, die zwar das Töten, nicht aber die Erbarmungslosigkeit gemeistert hat, wird von ihrer Meisterin beauftragt, in ihrer Heimat den Mann zu töten, den sie als Kind einst über alles liebte. Eine Intrige hatte ihm den Thron, ihr hingegen das Exil und die Ausbildung zur gefühllosen Killerin beschert. Bei THE ASSASSIN ist jedoch keinerlei Hauch von Melodrama, von jeglichem Exzess zu verspüren. Der Film ist hingegen so ruhig wie seine Figuren, die viel mit sich tragen, aber tief in ihnen verborgen. Seine Handlung und die Entwicklung seiner Heldin vollziehen sich weniger, als dass man spürt, wie sie sich durch die poetische Filmsprache in kaum bewusst wahrnehmbaren, zarten Gemütsregungen entfalten.

Vollends entschleunigt und unaufgeregt erzählt, bestimmt den Film eine ebenso ergreifende wie alles umfassende Stimmung, die sich mit jeder Einstellung ganz sanft fortsetzt und fortentwickelt. Angeblich wurde vor dem Filmdreh kaum geprobt. Stattdessen habe der Regisseur es vorgezogen, Szenen einfach erneut zu drehen. Der Effekt ist deutlich zu sehen und zu spüren: Kein Bild wirkt gestellt, sondern alles, auch das Schauspiel, fügt sich in einziges Stimmungsbild. Dieser Eindruck wird dadurch befördert, dass in allen Szenen die Umweltgeräusche die Tonebene dominieren und damit einen einheitlichen Kosmos für alles Geschehen stiften. Zudem sind die einzelnen Szenen, deren Abfolge sich manchmal erst später erschließt, durch den alles belebenden Atem der Natur verbunden: In jeder Einstellung wehen Tücher, flackern Kerzenflammen, wogen Rauch oder Dampf. Das Resultat ist eine erhabene Harmonie der Gesamtkomposition, bei der selbst die Action noch Ruhe, Balance und, ja, Natürlichkeit ausstrahlt. Denn während viele berühmte Wuxia-Filme ein bombastisches Action-Spektakel abfeiern und die ganze Kampf- und Filmkunst Asiens imposant vor Augen führen, inszeniert Hsiao-Hsien Hou sogar die Kämpfe absolut minimalistisch. Statt artistisch durch die Luft zu wirbeln und ins romantisch verklärte Heroische überhöht zu werden, treten die gepeinigten Figuren in THE ASSASSIN allesamt bodenständig auf. Ein Kampf entscheidet sich zumeist in einer einzelnen Regung, die alles entscheidet. Hierin gemahnt der Film eher an Klassiker des Samuraifilms wie 7 SAMURAI (J 1954; R: Akira Kurosawa). Die ebenso punktuellen wie eruptiven Momente sowohl der Gewalt wie selbst der Magie wirken in THE ASSASSIN so natürlich wie der Einfall des Lichts oder das Aufbäumen des Nebels.

Es sind diese Bildkompositionen, die alle auf den reinen Ausdruck reduziert sind und doch zugleich die Sinne mit ihrer unbeschreiblichen Schönheit überwältigen, da ihre unvergleichliche Erhabenheit aus dem schier unfassbaren Maximum an Konzentration entspringt. Indem Hsiao-Hsien Hou alles auf ein Minimum reduziert, das aber seinen ebenso sinnvoll wie selbstverständlich anmutenden Platz in diesem atemberaubenden Stimmungsbild einnimmt, ist aus THE ASSASSIN einer der poetischsten Filme aller Zeiten geworden, der wahrlich seinesgleichen sucht. Leider enttäuscht auch bei den größten Klassikern der Filmgeschichte dann doch zumeist die eine oder andere Szene, da sie dem hohen Anspruch nicht ganz gerecht wird. Nicht so in THE ASSASSIN: Jede einzelne Kamera-Einstellung gleicht einem Gemälde von Meisterhand, bei dem man für jede Sekunde des Verweilens dankbar ist, um sich ganz darin zu versenken, um wohlig Herz und Geist in meditativer Ruhe aufatmen zu lassen.

Peter Scheinpflug