Respondenz-Kritik zu „TONI ERDMANN“ (D/AT 2016) von Peter Scheinpflug

Katharina Görgen und Peter Scheinpflug teilen sich seit geraumer Zeit ein gemeinsames Büro und lieben Filme über alles – nur nicht dieselben Filme. Dafür streiten sie sehr gerne. Und daher schreiben sie Kritiken zu denselben Filmen. Viel Spaß beim Lesen!

Wenn eine Filmkultur noch nicht voll professionalisiert ist oder wenn ein Film unter besonders schweren Bedingungen entstanden ist, dann würdigt die Kritik oft das Ergebnis, obwohl es in mancherlei Hinsicht den Qualitätserwartungen nicht gerecht wird. Ähnlich geringschätzig müssen die Kritiker in Cannes vom deutschen Film, der seit vielen Jahren sich nicht mehr im Hauptwettbewerb hat messen dürfen, gedacht haben, um TONI ERDMANN so viel Lob auszusprechen. Der Film ist zu lang, zu konventionell und zu hässlich.

Wie Katharina Görgen vortrefflich festhält, geht es um viel in TONI ERDMANN: Ein alter Tausendsassa, der erst auf einem Ölfeld in Rumänien lernen wird, dass seine Scherze andere Menschen viel kosten können, die Lebensgrundlage etwa. Eine Karrierefrau, die gerade als Frau um Selbstbehauptung kämpfen muss, damit sie nicht immer nur mit den ebenso verwöhnten wie dämlichen Frauen der Chefs shoppen gehen muss. Und dazu das übliche Panoptikum der derzeit so beliebten Kapitalismus-Kritik.

Als Kritik am Gebaren des globalisierten Kapitalismus macht der Film durchaus noch Laune. Dies liegt vor allem daran, dass Toni Erdmann eine Travestie darstellt, die das Spiel aller anderer Geschäftsleute bloßstellt: Alle verlachen ihn, aber geben ihm bzw. nehmen von ihm eine Visitenkarte mit aufgesetztem Lächeln; keiner stört sich daran, dass Toni einfach Personen herzlich wie beste Freunde begrüßt, obgleich sie ihm völlig fremd sind; niemand versteht, was genau sein Beruf ist, will es aber auch nicht so genau wissen; alle glauben, ihn kennen bzw. ertragen zu müssen, da so viele andere ihn auch schon kennen; und vieles mehr. Das ist zwar recht witzig inszeniert, aber auch arg abgeschmackt mit Blick auf die vielen vergleichbaren Filme wie etwa YELLA (D 2007; R: Christian Petzold) oder ZEIT DER KANNIBALEN (D 2014; R: Johannes Naber). Dass der Film alles dann ausgerechnet auch noch am inzwischen mehr als klischeehaften Motiv der entlarvenden Maskerade durchexerziert, macht seine Inspirationsarmut und Bisslosigkeit nur umso ärgerlicher.

Bitter ist auch, dass der Film einmal mehr das Stereotyp der Karrierefrau durchdekliniert, die für ihre Karriere alles opfern muss: Familie, Freunde, Individualität, Emotionen. So mutmaßen wir zumindest. Denn so genau erfahren wir nie, was die Protagonistin tatsächlich geopfert hat, da wir nie erfahren, wovon sie einst träumte. Offenbar will sie Partner/in in der Unternehmensberatung werden, für die sie sich selbst ausbeutet. Doch darüber hinaus werden uns keine Motivation, Wünsche, Ideale oder Ziele vermittelt. Dies kann freilich als Deformation verstanden werden, die einem Individuum auf diesem Karriereweg widerfährt. Aber dafür bräuchte man eine Vergleichsfolie, die der Film einfach nicht bietet. Auch die Nebenfiguren, die blasierten Chefs etwa oder die bemühte, rumänische Assistentin, taugen dazu nicht, da sie im Vergleich zu Vater und Tochter zu blass und stereotyp ausfallen. Dies mag man nun wiederum als spröden Kunstfilm, der nicht vor Leerstellen zurückschreckt, deuten – oder aber als unausgegoren.

Ich stelle gar nicht in Abrede, dass TONI ERDMANN viele ebenso aktuelle wie brisante Fragen aufwirft – aber es mangelt dem Film an dramaturgischer und ästhetischer Präzision: Wieder einmal gibt es verwackelte Kamera-Einstellungen und offensichtlich keine durchkomponierte Lichtdramaturgie. All das mag irgendjemand ‚realistisch‘ finden, es ist aber schlicht hässlich. Man kann sich insgesamt nicht ganz des Eindrucks erwehren, dass am Set gedacht worden sein muss, dass es für einen guten Film lange, einfach ein paar famose Schauspieler mit einigen pointierten Dialogzeilen vor die laufende Kamera zu stellen. Dass die Kamera genau beobachten kann, dass eine ‚gestellte‘ Bildkomposition Seelenlandschaften visualisieren kann, dass Verfremdung soziale und psychische Realitäten viel präziser und ausdrucksstärker hervorbringen kann, dass eine Ästhetisierung etwas zum Ausdruck bringen kann, dass Verdichtung und Zuspitzung das Publikum ebenso bewegen wie anregen kann – TONI ERDMANN scheint von alle dem nichts wissen zu wollen und in seiner Tristesse schier nicht enden zu wollen.

Die deutsche Filmkultur jenseits der Schweiger-Schweighöfer-Komödien-Erfolgsformel tendiert zu oft zu schwermütigen, dialogreichen, oft vom Dogma-Stil inspirierten Dramen oder bestenfalls Tragikomödien ohne jede Experimentierfreude. Auch TONI ERDMANN ist solch ein typisch deutsches, pseudo-realistisches, biederes Kammerspiel mit etwas Situationskomik. Das muss nicht so sein: Vor allem im Bereich des jungen Genre-Films, der im ‚Land der Dichter und Denker‘ noch immer zu oft belächelt wird, gibt es ebenso intelligent wie kunstvoll inszenierte Filme, die nicht nur spielerischer, sondern vor allem auch mutiger als TONI ERDMANN sind. Ich denke da etwa an DER BUNKER (D 2015; R: Nikias Chryssos) oder an NACHTMAHR (D 2015; R: Akiz). Beide Filme kann man übrigens während der Laufzeit von TONI ERDMANN schauen.

Peter Scheinpflug