Vernichtend.

Ich lese nie Rezensionen, bevor ich ins Theater gehe, für mich verträgt sich die stille Androhung des Spoilers nicht mit dem Vergnügen eines unbefleckten Theaterabends. Im echten Leben glaube ich nicht an unbefleckte Abende, schon gar nicht im Theater, aber erhalten wir uns die Unschuld für einen kurzen Moment, zumindest in der Theorie. 

Gegen die Rezensions-Lektüre nach dem Abend ist jedenfalls nichts einzuwenden. Um die eigene Erfahrung argumentativ zu bekräftigen, herauszufordern oder als zu naiv, bürgerlich, wohlwollend oder beschränkt zu entlarven. Diesem ästhetischen Überlegungsgleichgewicht möchte ich meine Rezeptionsnotizen Ersan Mondtags Inszenierung der „Vernichtung“ von Olga Bach am Schauspiel Köln aussetzen.

„Eine in erster Linie visuell überzeugende, phantasievoll-opulente Bilderwelt voller spektakulärer Effekte“, schreibt Geneva Moser für die nachtkritik.de über die Inszenierung in Bern. Und das ist eigentlich auch schon das Höflichste, was ihr zur Kooperation von Autorin Olga Bach und Ersan Mondtag einfällt. Das Stück, das vom Kölner Schauspiel übernommen wurde, feierte seine Premiere bei uns am 22. September 2018. Grundlage meiner Notizen ist die Aufführung am 14. Oktober vor einem vollen, aber soweit ich das durch den Nebel der Ouvertüre beurteilen konnte, nicht vollständig ausverkauften Saal. 

Überhaupt, der Nebel: Ich betrete den Zuschauerraum, der Nebel schiebt von der Bühne her die ästhetischen Reste der vierten Wand in Richtung des Publikums, lässt sie aber durch den Verlauf des Abends weiter unangetastet. Vier bunt bemalte Gestalten plumpsen auf das Spielfeld, es geht los. Es setzt ein allgemeiner Kenner-Stolz ein, das Setting als diffuse Mischung aus Expressionismus und Surrealismus erkannt zu haben, irgendwo flüstert eine*r – der oder die wohl vorher die Rezensionen gelesen hat, die beinahe unterschiedslos bildungsbürgerlich beflissen die Referenz aufmachen – „oh, ja, Ernst Ludwig Kirchner“ und damit ist die Überwältigung der Bilderwelt auch schon ausdiskutiert.

Die Figuren – laut Mondtag bilden sie den Charaktertypen nach „den Psychologen, die bürgerliche Humanistin, den linken Verschwörungstheoretiker und den Fremden mit dem Außenblick“ nach – scheinen sich nicht ganz entscheiden zu können, ob sie sich die Bewegungsmechanik Frankensteins oder die grafisch überholter Rollenspiele zu eigen machen wollen. Das macht immerhin zum Teil schöne Momente von offensiv atmenden Körpern in Max Reinhardtscher Sommernachtstraum-Naturbühnen-Ästhetik (theaterwissenschaftlich beflissene Referenz, know your memes, fellow students, Mediengeschichte bei Sabine Päsler!).

Die Dialoge zwischen diesen Bildern gleichen eher Monologen, die nur zufällig in einem Textraum zu erscheinen scheinen. „Mitunter wird fragmentarisch und wenig engagiert die Welt kommentiert, werden Drogen konsumiert und krampfhaft sich selbst gesucht“, heißt es bei Geneva Moser; und mit Fragmentierung und fehlendem Engagement hat sie vielleicht die beiden größten Schwächen der Inszenierung aufgegriffen – die sich freilich ohne weiteres (sprich: erheblichem Argumentationsaufwand) auch als Stärken inszenieren ließen. Im Fall der „Vernichtung“ muss man es aber schon sehr wollen, in der Form der Inszenierung einen subversiv adäquaten Ausdruck des Inhaltes zu finden. Der Vollständigkeit halber; das Argument geht dann so: 

  • Schritt 1, der die Beobachtung einer Rezeption bereits voraussetzt: Aha, hier wird die Banalität des Stückes angeprangert. 
  • Schritt 2, der das Subversionspotenzial erkennt: Nun denn, genau darum geht es ja!
  • Schritt 3, der die Umwertung der Rezeption vornimmt: Aber die Schlechtigkeit der Welt ist es doch, die hier noch in der Banalität ihres banalsten Inszenierungsangebotes zum Ausdruck kommt!

Das sieht in einer abgeschwächten Form zum Beispiel so aus, dass „das Überzeugende an Mondtags Inszenierung“ (vielleicht) darin gefunden wird, „dass sich alle empfundenen Schwachpunkte auf Inszenierungsebene trotzdem als Zeitkritik lesen lassen.“ (Moser) Lieber halte ich es da mit der Berliner Zeitung, die, um die Metapher vom Anfang aufzunehmen, „bestürzend belangloses Herumstochern im Zeitgeistnebel“ statt billiger Zeitkritik feststellt.

Nach der gefühlten Hälfte des Stücks werden Fetzen der Dia- und Monologe nun chorisch wiederholt. Dann eben lauter. Auch hier gilt die banale Einsicht, die wir schon im Kindesalter lernen mussten: Nur weil eine*r schreit, hat er oder sie noch nicht gleich recht.

Wenn ich angehalten wäre, eine Empfehlung für das Stück auszusprechen, würde ich es vermutlich nicht tun. Allerdings scheint „Die Vernichtung“ zumindest in der nächsten Zeit ohnehin nicht im Schauspiel Köln zu laufen. Was aber noch und wieder von Ersan Mondtag läuft, ist die Inszenierung von einem Text von Sibylle Berg. „Wonderland Ave“ habe ich in der letzten Spielzeit gesehen und mich auch hier über die teils banale und repititive Quängelton-Ideologiekritik geärgert. Aber eine tiefe Liebe für Sibylle Berg, deren Stimme das Stück eröffnet, sowie die Begeisterung für das Bühnenbild (ein großer Berg nackter Mann liegt als Plastik in der Mitte der Bühne und erinnert an die passive männliche Figur in Bergs „Der Mann schläft“) lässt mich in diesem Fall einen Besuch empfehlen. 

Von einer Spoilergefahr kann man bei meinem Text nicht sprechen, weil er sich der Schilderung der Handlung weitestgehend enthalten, und statt einer konsequenten Rezension fragmentarische und wenig engagierte Collagen von fremden Rezensionen und eigenen Rezeptionseindrücken eklektisch zusammengebracht hat. Aber um doch eins vorwegzunehmen: Am Ende ist einer nackt, reibt sich an einem Wildschwein und springt in den Echtwasser-Teich im dampfigen Dämmerlicht der Bühne. Das ist zwar auch nicht sehr innovativ, aber bestimmt eine Freude für den Schauspieler, der in seinem hauteng anliegenden Polyesteranzug doch arg schwitzen muss.