Special: Dr. Peter Scheinpflugs Lesetipps für die Reading Week

Wem die Inspirationen für die Reading Week noch nicht genug waren, dem kann geholfen werden: Auch unser Dozent Dr. Peter Scheinpflug konnte sich zwischen vielen Büchern, Filmen und Serien nur schwer entscheiden und hat uns deswegen eine ganze Reihe an Tipps und Empfehlungen geschickt. Wir finden: Viel zu schade, um sie nicht zu veröffentlichen. Viel Spaß beim Stöbern!

Bücher

Das Recht auf Faulheit von Paul Lafargue

In Zeiten, in denen Burnout als Volkskrankheit gilt und ein heftiger Streit um das Turbo-Abi tobt, lohnt ein erneuter Blick in die ebenso kurze wie kurzweilige Streitschrift von Paul Lafargue aus dem Jahr 1883. Darin plädiert der Autor mit Nachdruck dafür, dass es zum Wohle aller Menschen verboten sein sollte, täglich mehr als 3 Stunden zu arbeiten. Einiges daran mag heute überholt, einiges mehr unübersehbar polemisch zugespitzt sein, aber noch viel mehr gibt die Streitschrift auch einer heutigen Leserschaft zu denken auf, nämlich die zwar einfache, aber überaus schwierige Frage, in welcher Welt man leben will und wie viel Arbeit dafür tatsächlich sinnvoll ist. Lafargues kleine Schrift ist wunderbar verspielt und polemisch und wartet am Ende mit einer großartigen Theatermetapher auf. (Allein die vereinzelten antisemitischen und rassistischen Einlassungen des Autors trüben den Lesespaß.)

Das eigentliche Übel von Michel Serres

Fühlen Sie sich auch so richtig schmutzig, wenn Sie eine Theorie oder ein Modell lernen müssen? In seinem Essay betrachtet Michel Serres Prozesse der Aneignung und der Inbesitznahme als Verschmutzung. Von der Verschmutzung des nationalen Bodens mit Leichen bis hin zur Verschmutzung der Lebensräume mit Werbung und Ideologie. Gewiss, der sprachspielerische Gestus wird manche Lesende anwidern und die sehr forcierte Agenda sie nerven, alle Besitzverhältnisse als Verschmutzung zu denken, aber der Essay ist wunderbar pointiert und fordert dazu heraus, bewusst und gezielt einen kritischen Blick darauf zu werfen, wer eigentlich wen verschmutzen darf. Wer keine Berührungsängste mit schmuddeligen Essays hat, wird sich gerne in dieser kleinen Schrift suhlen und sich so richtig von Serres’ Denken verschmutzen lassen wollen.

Was mit Medien von Nora-Nele Heinevetter und Nadine Sanchez

Die meisten Einführungen in Theorieklassiker der Medienwissenschaft sind furchtbar dröge und frustrierend, was nicht selten daran liegt, dass sie viel zu nah am eigenwilligen Sprachduktus der jeweiligen Theorie liegen und die Komplexität der Theorien durch eine überaus schwerfällige Dichte der Erläuterungen unnötig kompliziert erscheinen lassen, als dass sie als Einstiegs- und Kennenlernlektüre geeignet wären. Diese Einführung nicht! Anhand einfacher und lebensnaher Beispiele, in leicht verständlicher Sprache und vor allem mit erfrischender Freude an der kreativen Vermittlung von höchst niveauvollen und komplexen Theorien präsentieren die beiden Autorinnen kanonische Klassiker der Medientheorie so, dass man nicht nur viel Erkenntnisgewinn, sondern vor allem auch ganz viel Spaß beim Lesen hat. Am Ende wünscht man sich nur, es gäbe noch mehr komplizierte Theorieklassiker, über die die Autorinnen schreiben könnten.

Transparenzgesellschaft von Byung-Chul Han

Byung-Chul Hans Essay zeichnet in großen und kräftigen Zügen aktuelle, viel besprochene und beklagte Entwicklungen der Digitalkultur nach. Wenig bescheiden lauten die Kapitel gleich die Transparenzgesellschaft, die Ausstellungsgesellschaft oder die Pornogesellschaft, was bereits anzeigt, dass es dem Autor nicht um eine fein differenzierte Argumentation, sondern um die ganz großen, den Alltag vieler Menschen bestimmenden Kulturpraktiken geht. Byung-Chul Han leistet damit eine großmütige Zusammenschau besonders prominenter rezenter Positionen der Medien- und Kulturkritik, die dank der gewollten Zuspitzung überaus unterhaltsam und anregend zu lesen ist.

Die Welt als Phantom und Matrize von Günther Anders

Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass die ‚Realität‘ immer mehr wie das Fernsehen aussieht? Merken Sie auch, wie sie glauben, die Welt bestens zu kennen, obwohl sie den Großteil davon nie bereist haben? Geht es Ihnen nicht auch so, dass Nachrichten, aber auch Serien viel realer und interessanter wirken als das, was sie gerade eben selbst erlebt haben? Mit solchen und vielen weiteren Fragen hat sich Günther Anders in seinem Essay von 1955 anlässlich des Massenmediums Fernsehen beschäftigt. Ebenso polemisch wie spitzfindig entfaltet Anders darin eine umfassende Kritik am Fernsehen, die uns auch heute noch viel zu denken aufgeben sollte – zumal einige Kritikpunkte im Internetzeitalter noch dringlicher geworden sind. Zugegeben, auf den Schreibgestus muss man sich einlassen und der Essay ist auch etwas umfangreicher, aber die Lektüre lohnt in jedem Fall! Eine überarbeitete Version mit einer Länge von etwas mehr als 100 Seiten ist in der Monographie „Die Antiquiertheit des Menschen Band 1“ 1956 erschienen, die ursprüngliche dreiteilige Essay-Reihe ist ca. 50 Seiten lang und online verfügbar.

Mediathek-Hinweise

Ihre Dozierenden haben Ihnen sowieso schon viel zu viel zu lesen für ihre Lehrveranstaltungen aufgegeben, weil ja reading week ist? Sie brauchen dringend eine Auszeit, die sie aber aktiviert und motiviert? Die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen sind vollgepackt mit ebenso intelligenten und anspruchsvollen wie schönen und unterhaltsamen Fernsehfilmen und Serien, die sich mit brisanten Themen direkt aus dem bundesdeutschen Alltag beschäftigen. Hier einige Anregungen:

BABYLON BERLIN (ARD Mediathek)
Sie studieren Medienkulturwissenschaft, haben einen Internetzugang, aber immer noch nicht BABYLON BERLIN gesehen?! Selten war deutsches Fernsehen so atemberaubend schön, so virtuos erzählt, so unfassbar stimmungsvoll, so pompös ausgestattet, so großartig bis in die Nebenrollen hochkarätig besetzt und vor allem politisch so aktuell wie BABYLON BERLIN. Sie müssen es natürlich nicht schauen, aber wundern Sie sich nicht, wenn es alle anderen längst getan haben!

IM ANGESICHT DES VERBRECHENS (ARD Mediathek)
Vor BABYLON BERLIN war IM ANGESICHT DES VERBRECHENS Dominik Grafs Kultklassiker über Freundschaft, Liebe, Familie und Verbrechen mit Ronald Zehrfeld (Barbara, 4 Blocks), Max Riemelt (Freier Fall, Sense8), Marie Bäumer (3 Tage in Quiberon), Mišel Matičević (Im Schatten, Babylon Berlin) und Alina Levshin (Kriegerin). Stilsicher und stilbildend!

NACHTSCHICHT: ES LEBE DER TOD (ZDF Mediathek)
Nach gefühlt einer unerträglichen Ewigkeit schickt Noir-auteur Lars Becker endlich wieder seine kultige Nachtschicht auf düstere Streifzüge voller ebenso skurriler wie sympathischer Ganoven. Neben den Stammermittlern Armin Rhode, Minh-Khai Phan-Thi und Barbara Auer sorgen dieses Mal auch Frederick Lau (4 Blocks, Simpel), Kida Khodr Ramadan (4 Blocks) und Murathan Muslu (Risse im Beton, Das deutsche Kind) für einen schier unerschöpflichen Quell an schnodderiger Coolness. Und wer Blut geleckt hat, kann noch einige alte Folgen der Serie in der Mediathek finden.

BRUDER SCHWARZE MACHT (ZDF Mediathek)
In vier Teilen erzählt diese Mini-Serie von der Entwicklung eines jungen Deutsch-Türken zum islamistischen Terroristen und von der schmerzvollen Erkenntnis seiner Schwester, dass sie sich nur deshalb so gut integriert fühlen kann, weil sie den alltäglichen Rassismus und -Sexismus ausblendet. Die politisch sehr ambitionierte Serie lässt dabei kaum ein Streitthema rund um Integration aus und gibt mit ihrer reißerischen Geschichte und kontroversen Dialogen wie „Als Türke bist du immer der Nigger, verstehst du?“ viel zu denken auf. Mit Sibel Kekili (Games of Thrones, Gegen die Wand), Bjarne Mädel (Mord mit Aussicht, Tatortreiniger) und Friedrich Mücke (SMS für Dich, Ballon).

TOTER WINKEL (ARD Mediathek)
Ein großartiges companion piece zu BRUDER SCHWARZE MACHT, da dieses unglaublich intensive Krimidrama erfrischend unaufgeregt die ungeheuer aufregende Geschichte erzählt, wie ein Vater durch Zufall erfährt, dass sein Sohn dem rechtsextremen Untergrund angehört – woraufhin seine ganze heile Welt zerbricht. Ein ebenso ruhiger wie beunruhigender Film von Stephan Lacant (Freier Fall, Fremde Tochter) mit Herbert Knaup (Die Sieger, Die Kanzlei) und Hanno Koffler (Freier Fall, Meister des Todes) in den Hauptrollen.

TANKEN: MEHR ALS SUPER (ZDF Mediathek)
Dieses deutsche Remake einer isländischen Serie ist zum Bersten gefüllt mit sympathischen Verlierern, unvorhersehbar skurrilen Ereignissen und bitterbösen Seitenhieben auf aktuelle politische Themen wie Selfmarketing, Optimierungswahn, Rassismus, Gender und vieles mehr. Dazu ist die Serie herrlich dezent neo(n)-bunt.

Auch ein Blick in das TATORT-Archiv der ARD Mediathek lohnt immer. Derzeit findet man dort etwa die Bremer Horror-Hybride BLUT mit der wie immer grandiosen Ausnahmeschauspielerin Lilith Stangenberg (Wild), oder den, wie es schon öfter beim Stuttgarter Tatort vorkam, ungewöhnlich actionreichen IM GELOBTEN LAND zur Flüchtlingsdebatte mit einer atemberaubenden Noir-Ästhetik sowie Sascha Alexander Gersak (Tore Tanzt) und Florence Kasumba (Black Panther), oder auch gleich zwei Tatorte zu Rechtsextremismus mit LAND IN DIESER ZEIT (Frankfurt) und FREIES LAND (München). Und bitte vergessen Sie den POLIZEIRUF 110 nicht! Etwa DER TOD MACHT ENGEL AUS UNS ALLEN zu brandaktuellen Genderfragen wie der Krise der Männlichkeit und Transgender oder auch DAS GESPENST DER FREIHEIT zum Thema V-Männer des BND bei Neo-Nazis.

FAMILIE LOTZMANN AUF DEN BARRIKADEN (ARD Mediathek)
Axel Ranischs (Dicke Mädchen, Zorn) bitterböse, unberechenbar skurrile und zutiefst sympathische Abrechnung mit Spießbürgern und Weltverbesserern. So anarchisch und aberwitzig kann ARD sein.

PARFUM (ZDF Mediathek)
Wer einmal Patrick Süskinds Roman „Das Parfum“ gelesen hat, wird dieses außergewöhnliche Lese-Erlebnis niemals vergessen. Zu genial verwickelt Süskind die Leserschaft in die amoralische Geschichte seines Antihelden, zu unvergleichlich virtuos nutzt er die Schrift und damit die Visualität, um unfassbar intensive olfaktorische Sensationen der Leserschaft als synästhetischen Leserausch erfahrbar zu machen. Nachdem bereits Tom Tykwer sich vor einigen Jahren an eine recht getreue Verfilmung gewagt hat und damit geradezu unvermeidbar an der Genialität der Vorlage scheitern musste, wurde Süskinds Weltbestseller nun als Fernsehminiserie adaptiert. Die Serie meidet jedoch den direkten Vergleich mit der übermächtigen Romanvorlage, indem sie sich stärker davon löst, nur einzelne Motive adaptiert und sich ansonsten vor allem an den Konventionen der derzeit im Fernsehen, wie in den Mediatheken und auch bei Streaming-Diensten so immens erfolgreichen gegenwartsbezogenen Thriller-Serien bedient. Einen Blick lohnt die Serie allein deswegen schon allemal. Auch die namhafte Besetzung lockt, zu der unter anderem August Diehl (23 – Nichts ist so wie es scheint, Tattoo), Ken Duken (Nachtschicht, Tempel) und Wotan Wilke Wöring (Tatort, Winetou-Remakes) zählen.

Und haben ARTE und 3SAT nicht auch eine Mediathek? Die nächste reading week kommt bestimmt!