Etwas über einen Monat ist es her, dass die Türkei aus der Istanbul-Konvention ausgetreten ist, einem Abkommen zum Schutz von Frauen gegen geschlechtsspezifische Gewalt, das 2011 in ebenjener Metropole am Bosporus unterzeichnet wurde. Mittlerweile zählt die Konvention 45 Unterschriften von Mitgliedsstaaten des Europarats. Der türkische Präsident Erdoğan hatte den Austritt bereits im März dieses Jahres wenige Wochen nach dem Internationalen Frauentag angekündigt – und wurde dafür sogleich lautstark kritisiert: Von mehreren Tausend Demonstrant*innen und der Opposition im Land, von Frauenverbänden und Menschenrechtsorganisationen, vom Europarat.
Und von Elif Şafak (englisch: Shafak). Die Bestsellerautorin ist eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen in der Türkei und auch im Ausland bekannt – für ihre Romane und ihre regierungskritische Haltung. 2006 stand sie deshalb vor Gericht wegen ihres Romans Der Bastard von Istanbul. Şafak bezeichnet sich selbst als Feministin, hat sogar Gender and Women’s Studies im Master studiert. Immer wieder macht sie sich stark für Frauenrechte in der Türkei und schreibt Romane, in denen starke Frauenfiguren sich gegen patriarchale Strukturen auflehnen, um so sein zu können, wie sie sein möchten.
Schriftstellerin, Forscherin, Feministin
Geboren wurde Şafak, Tochter einer Diplomatin und eines Professors für Soziologie, aber nicht in der Türkei, sondern 1971 in Straßburg. Nach dem Studium in der türkischen Hauptstadt Ankara promovierte sie in Politikwissenschaften zu Männlichkeitsdiskursen in der türkischen Moderne. Mittlerweile lebt Şafak in London, wo sie an der Kingston University lehrt. Und Bücher schreibt: 19 Titel hat sie bisher veröffentlicht, übersetzt in mehr als 50 Sprachen. Şafak schreibt auf Türkisch und auf Englisch. Viele der Werke sind preisgekrönt, ihr Roman 10 Minutes 38 Seconds in This Strange World (deutscher Titel: Unerhörte Stimmen) hat es 2019 sogar auf die Shortlist des renommierten Booker Prize geschafft.
Bekannt ist sie auch in Deutschland nicht nur für ihren literarischen Erfolg, sondern für ihre politische Haltung, die sie unermüdlich äußert: Für Meinungsfreiheit und Demokratie, für die Rechte von Frauen und der LGBTQ+-Community. Die Türkei bezeichnet sie als „gespaltenes Land“. Entsprechend kontrovers werden sie und ihre Literatur diskutiert. In Şafaks Romanen stehen meistens Frauen im Vordergrund, die sich gegen die Rollenbilder und Zwänge, die ihnen gesellschaftlich auferlegt werden, auflehnen. Viele ihrer Figuren sind genau das, was der deutsche Titel ihres Romans Unerhörte Stimmen nahelegt: Menschen, die marginalisiert werden, etwa Prostituierte oder Trans-Personen. Auf die Frage, ob sie sich mit politischen Aussagen zurückhalten würde, sagt die Autorin in einem Interview mit dem ZEITmagazin: „In meinen Romanen bin ich allerdings nie vorsichtig.“
Unangepasst
Besonders deutlich zeigt sich das in Der Bastard von Istanbul. 2006 erscheint der Roman auf Englisch, dominiert über Monate hinweg die türkischen Bestsellerlisten und wird beinahe so oft gedruckt wie Bücher des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk. Gegen Elif Şafak wird Anklage erhoben, wegen „Beleidigung des Türkentums“. Bis zu drei Jahren Haft sieht das türkische Strafgesetzbuch in solchen Fällen vor. Doch Şafak wird freigesprochen, das Verfahren eingestellt. Zwar erhält sie, wie sie selbst sagt, viel Zuspruch von Leser*innen, aber auch Hassbriefe und Morddrohungen.
In Der Bastard von Istanbul führen die Lebenswege zweier junger Frauen und Cousinen plötzlich zusammen, die lange nichts voneinander wussten: Während Asya mit ihrer Familie (die ausschließlich aus Frauen besteht) in Istanbul lebt, ist Armanoush in den USA aufgewachsen – bei ihrer Mutter und einem türkischen Stiefvater. Doch ihr eigentlicher Vater ist Armenier, und so entschließt sich Armanoush zu einer Reise nach Istanbul, um mehr über ihre Wurzeln zu herauszufinden. Nach und nach erfahren die beiden Cousinen erst von den traumatischen Ereignissen, die innerhalb der Familie vorgefallen sind. Şafak spricht hier eine ganze Vielzahl von tabuisierten Themen an, darunter Abtreibung, sexueller Missbrauch und Inzest. Gewalt, die weibliche Figuren im Roman erfahren, aber über die sie nicht sprechen können.
Die Frauen in Der Bastard von Istanbul sind(wie in vielen von Şafaks Romanen) deutlich in der Überzahl. Vor allem aber sind die Charaktere in Asyas Familie grundverschieden und herrlich eigen: Die einst virtuos klavierspielende Urgroßmutter, die cholerische Oma, eine vermeintlich hellsehende Tante – alle unter einem Dach. Und natürlich Zeliha, Asyas alleinerziehende Mutter, die entgegen allen Konventionen am liebsten superkurze Röcke mit hohen Absätzen kombiniert, egal, was irgendwelche Männer davon halten. Şafaks Frauenfiguren sind oft schrullig, aber sie sind, wie sie selbst, unangepasst.
Schwesternschaft
Zwar ist die Türkei bislang das einzige Land, das die Istanbul-Konvention wieder verlassen hat – doch schon jetzt gibt es auch in Polen konkrete Bestreben des Austritts aus dem Abkommen. Andere EU-Staaten wie etwa Ungarn hingegen wollen die Konvention trotz Beitritts nicht ratifizieren, sprich, sich rechtlich zu ihrer Umsetzung verpflichten lassen. Nicht nur vor diesem Hintergrund und nicht nur in ihren Romanen geben Autor*innen wie Elif Şafak denen eine Stimme, die an den Rand patriarchaler Gesellschaften gedrängt werden.
Wenn sich Şafak als Feministin eines für die Gesellschaft wünscht, dann ist es vor allem mehr Solidarität und Zusammenhalt für die Menschen, die benachteiligt, diskriminiert und ausgegrenzt werden. In Bezug auf Frauen erwähnt sie immer wieder die Idee von Schwesternschaft („sisterhood“), also einer tiefen Verbundenheit unter Frauen, die sich gegenseitig empowern. Und zumindest die Frauen in Der Bastard von Istanbul scheint trotz aller Differenzen eine solche Verbindung bereits zu umgeben.
Illustration: Oliver Wahl