“I’m more than enough. You can’t even handle it.” – FKA Twigs und die Befreiung aus patriarchalen Strukturen

FKA Twigs ist ein Multitalent wie ich selten eines gesehen habe. Die als Tahliah Barnett geborene Engländerin ist nicht nur Sängerin und Autorin. Sie ist auch Produzentin, Model, Schauspielerin, Kampfsportlerin und begabte (Poledance-)Tänzerin. Zudem ist ihre Musik nicht einfach Musik: Sie ist eine gewagte Mixtur aus Electronic, Punk, Trap, Trip Hop, choraler Musik und viele anderen Genres von denen ihr wahrscheinlich noch nie etwas gehört habt.

Ein Leben voller Innovation und Kreativität

Die nun 33-jährige Tahliah Barnett lebte schon immer ein extrem kreatives Leben. Bereits in jungen Jahren tanzte sie Ballett und sang in der Oper. Als sie mit 17 nach London zog, arbeitete sie als Backup Tänzerin für berühmte Stars wie Ed Sheeran, Taio Cruz oder Jessie J. Vielleicht habt ihr sie ja schon mal im „Price Tag“-Video gesehen, ohne es zu wissen. Mit 18 begann sie, immer mehr eigene Musik zu machen und entwickelte einen Sound, der unverwechselbar ist.

Ihr Künstlername entstand dadurch, dass ihre Knochen beim Tanzen wie Äste knacken – deswegen „Twigs“. FKA steht für Formerly Known As. In 2012 veröffentlichte FKA Twigs ihr erstes EP: EP1. Dieses wurde auch hoch gelobt: The Guardian bewertete Twigs als „the UK’s best example to date of etheral, twisted R&B.“ Barnett lehnt es jedoch ab, als R&B Sängerin charakterisiert zu werden. Dieses Label würde ihr nur aufgrund ihrer Hautfarbe auferlegt und habe nichts mit ihrer eigentlichen, genrelosen Musik zutun.

Barnett beschreibt ihre Musik stattdessen als „genre-bending“ und will sich nicht auf einen Sound festlegen. So klingt auch jedes ihrer Lieder vollkommen anders. Barnett experimentiert mit den spannendsten Geräuschen und Atmosphären. So entsteht der Sound manchmal aus Töpfen und Pfannen, oder aus Autolärm. Diese Mixtur trotzdem so gut klingen zu lassen – das ist Talent.

Barnetts Musik hat meistens ein visuelles Element. Die Musikvideos und Liveshows von FKA Twigs sind daher ein surreales Erlebnis. Sie sind verwirrend, komplex, schmerzerfüllt – und haben alle einen sofortigen Wiedererkennungswert. Das EP M3LL155X (Melissa) aus 2015 wurde auf YouTube zu einem fesselnden Kurzfilm, der von sexueller Befreiung, weiblicher Autonomität und der Wertschätzung des Andersseins handelt. Der Film wurde mit den Fertigkeiten David Lynchs verglichen.

Rebellion gegen die Unterstellung der Frau

Die Musik von FKA Twigs ist tiefgründig und meist voller Schmerz. Mein Lieblingslied von Twigs, Mary Magdalene, handelt von ihrem Gefühl, dass sie als Frau immer in Relation zu der Narrative eines Mannes steht. Sie sagt in einem Interview mit i-D: „No matter what you’re doing or how great your work is, sometimes it’s as though you have to be attached to a man to be validated.” Sie vergleicht sich daher mit Maria Magdalena aus der Bibel, die nur als eine Freundin Jesu bekannt ist, obwohl sie eine kräuterkundige Heilerin war. In der Bibel wird sie jedoch zur Narrative einer Prostituierten dekradiert: „It’s easier to call her a whore, because as soon as you call a woman a whore, it devalues her. I see her as Jesus Christ’s equal.” 

So schreibt sie im Song Mary Magdalene:

A woman’s hands
So dark and provocative
A nurturing breath that could stroke
Your divine confidence
A woman’s war
Unoccupied history
True nature won’t search to destroy
If it doesn’t make sense

In dieser Strophe beschreibt sie das Ignorieren und Herausschreiben weiblicher Narrative in geschichtlichen Diskursen, zugunsten männlicher Protagonisten. „A woman’s war“ steht hier für die unerkannten Qualen, die viele Frauen durchgestanden haben, über die nie gesprochen werden. Kein Lied für einen entspannten Abend, aber auf jeden Fall hörenswert. Der Sound setzt sich aus choralen Elementen und Schwermetall-Percussion zusammen. Nach dem Refrain nähert sich der Song einer außerweltlichen Elektronik an, bei der meine Seele immer kurz meinen Körper verlässt.

Der erfolgreiche Kampf gegen seelischen und körperlichen  Schmerz

Barnett kann sich so gut mit Mary Magdalene identifizieren, da auch sie bis 2017 das Pendant zu einer männlichen Berühmtheit war: zu Robert Pattinson. Während die beiden verlobt waren, erhielt Barnett zahlreiche Angriffe auf rassistischer Basis, die bis hin zu Morddrohungen führten. Als Pattinson in 2017 die Verlobung auflöste, warf sie das psychisch in ein tiefes Loch. Dazu kam die Diagnose einer Fibrose, die ihr starke Schmerzen im Unterleib verpasste. Ihr war es zeitweise kaum möglich, sich zu bewegen, was für ihre Karriere ein starker Rückschlag war.

Die vielen privaten Rückschläge inspirierten sie jedoch zu einem neuen Debut 2019. Im Titelsong Cellophane fragt sie gebrochen: „Didn’t I do it for you?“ Das Lied, stehend für einen kathartischen Neuanfang, zeigt Twigs als verletzbare, aber dennoch extrem starke Persönlichkeit. Barnett sagt dazu: „Showing people your heart when it’s raw, it’s vulnerable, y’know?” Jetzt da sie gebrochen sei, sei das Offenbahren ihres Herzens ehrlicher und erschreckender als zuvor. Für das visuell extrem expressive Musikvideo, lernte Barnett eigens Poledancing, um – trotz Fibrose – ihre visuelle Vorstellung des Videos umsetzen zu können. Die Mixtur des Songs über Herzschmerz und dem Poledancing hat nach Barnett etwas humoristisches: „To be asking somebody ‚Didn’t I do it for you?’ whilst doing these amazing tricks on the pole, to me, there’s almost something humorous about that. It’s sick and it’s funny and it feels powerful like… I’m more than enough. You can’t even handle it.”

Ende 2019 veröffentlichte FKA Twigs dann das Album Magdalene, in dem sie ihre Beziehung und Trennung mit Pattinson aufarbeitet und dadurch eigene Kraft entwickelt. Sie erkennt im Album ihren eigenen Wert außerhalb patriarchaler Ideen. Am Ende des Tracks Cellophane wird sie wiedergeboren – und gehört nun vollkommen sich selbst. Sie ist wertvoll, kraftvoll und „too much to handle.“