Sein 50-jähriges Jubiläum hat der Tatort 2020 gefeiert, und damit findet er immerhin einen Platz in den Top 50 der weltweit längsten Serien. Die deutsche Kriminalfilmreihe hat ohne Frage Kultstatus – aber die Zeiten, in denen sich die ganze Familie am Sonntagabend vor dem Fernseher versammelt hat, sind lange vorbei. Gerade junge Menschen scheint das Format nicht in seinen Bann ziehen zu können. Liegt das an dieser Zuschauer*innengruppe, oder doch am Tatort selbst?
Ich selbst habe ja dank der Pandemie zum Tatort gefunden. Im Frühjahr 2020, als ich wie viele von uns zuhause saß und eher wenig zu tun hatte, musste eine neue Beschäftigung her. Die offensichtliche Lösung war es, eine neue Serie schauen. Nun bin ich damals wie heute kein Fan von Streamingdiensten – die ich dann doch nicht so viel nutze, dass es sich wirklich lohnt – und bin die sich mir bietenden Alternativen durchgegangen. Wer legal und kostenlos Filme schauen möchte, sieht sich hier in Deutschland ganz schnell auf öffentlich-rechtliche Angebote wie die ARD-Mediathek zurückgeworfen. „Zurückgeworfen“ klingt so negativ, eigentlich handelt es sich nämlich um eine beachtliche Auswahl an Filmen, Serien und anderen Sendungen, die dort zum Teil jahrelang abgerufen werden können. Aber es sind auch fast ausschließlich deutsche Produktionen. Nicht direkt das, was mir vorschwebte – aber man nimmt ja was man kriegen kann. Da mir viele der angebotenen Filme nichts sagten, ging ich es andersherum an: Welche deutschen Schauspieler*innen sehe ich gerne? Das fiel mir, ich möchte fast „natürlich“ sagen, als erstes Christoph Waltz ein. Und kürzlich war ein Tatort mit ihm gezeigt worden, Liebeswirren aus dem Jahr 2008, ein Krimi aus München. Bis dahin hatte ich nur Münster-Tatorte gesehen – für die besteht in meiner Familie zumindest eine gewisse Tradition – aber ich entschied mich, den Kommissaren Batic und Leitmayr eine Chance zu geben. Und das hat sich gelohnt. Anderthalb Jahre und etwa 80 von mir gesehene München-Tatorte später ist es wohl offensichtlich, dass mich dieser erste Film durchaus angesprochen hat. Das ist nicht nur Waltz zu verdanken, sondern eben auch dem bayerischen Team, das mich schnell überzeugt hat mit seiner freundschaftlichen Dynamik, dem cleveren und eigenwilligen Humor, den oft sehr guten Drehbüchern und nicht zuletzt den beiden Hauptdarstellern.
Während ich aber Tatort für Tatort verschlang, wurde mir auch klar: In meiner Altersklasse ist Tatortschauen uncool. Da findet man niemanden, mit dem man sich über den Film vom letzten Sonntag unterhalten kann. Und im Rheinland einen anderen München-Fan zu treffen ist natürlich auch eher schwierig. Aber von Letzterem abgesehen stellte ich mir doch die Frage: Wieso guckt sonst keine*r meiner Freund*innen den Tatort?
Zunächst möchte ich die Behauptung aufstellen, dass der Tatort mehr junge Fans hätte, wenn diese ihn einfach sehen würden. Das Genre ist schließlich auch bei jungen Menschen beliebt – laut Statista gab 2020 knapp ein Fünftel der deutschen Jugendlichen an, dass sie am liebsten Krimis im Fernsehen sehen. Trotzdem fällt ihre Wahl dabei nicht auf den Tatort. Denn wieso sollte jemand, der oder die auf Streamingplattformen jede gerade angesagte internationale Serie zu einem beliebigen Zeitpunkt abrufen kann, in der ARD-Mediathek in einen Tatort reinschauen, oder sich sogar am Sonntag um 20.15 Uhr vor den Fernseher setzen? Besonders dann, wenn die Reihe eher als ein bei Eltern und Großeltern beliebtes Programm bekannt ist, und junge Menschen nicht gezielt anspricht. Zwar bemüht sich die ARD mit Formaten wie dem interaktiven Tatort-Hörspiel oder dem Podcast Sonntag 20:15 Uhr sehr darum, ein jüngeres Publikum zu erreichen – und vielleicht würde das sogar gelingen, wenn sich die beiden Formate auch an Einsteiger*innen und nicht nur an eingefleischte Fans richten würden. Denn wer hört sich den Podcast über den Sonntags-Tatort an, ohne den Film vorher gesehen zu haben? Da hilft es auch nicht, dass das bei Jugendlichen sehr beliebte Thema True Crime aufgegriffen wird. Ein weiteres Problem fiel mir besonders in Folge 1 des interaktiven Hörspiels auf, das in meinen Augen auch oft den eigentlichen Tatort so wenig attraktiv für ein junges Publikum macht. Die für diese Folge erdachte Hauptfigur, Mavi Fuchs, ist neue Kommissarin in München. Sie wird charakterisiert durch ihren Pessimismus, ihre schwere Kindheit, ihr Alkoholproblem und ihre Zurückweisung jeglicher psychologischer Unterstützung. Und das ist gerade das, was wir nicht hören wollen, wenn ich hier stellvertretend für die jugendliche Zielgruppe sprechen darf. Erstmal entsteht eine stereotype Figur, der man gefühlt schon sehr oft begegnet ist – auch im Tatort. Wenn man außerdem im Vergleich einen Blick auf den auch bei Jugendlichen beliebtesten Tatort – nämlich den aus Münster – wirft, sieht man einen deutlichen Kontrast. Die Filme mit Thiel und Boerne zeichnen sich oft durch fast klamaukhaften Humor und eine wenig dramatische Handlung aus. Sie bringen ihre Zuschauer*innen zum Lachen, bieten ihnen eine Möglichkeit zum Eskapismus, anstatt sie mit zu realitätsnahen Problemen zu deprimieren. Das hat wenig Tiefgang, könnte man sagen, scheint junge Menschen aber viel mehr anzusprechen als der „als Tiefsinn getarnte Trübsinn“ (so bezeichnet es Leitmayr-Darsteller Udo Wachtveitl gerne in Interviews), der sonst regelmäßig im Tatort zelebriert wird.
Wachtveitl betont auch, dass in der Fernsehreihe oft die tiefgreifenden privaten Probleme der Kommissar*innen in den Vordergrund gerückt werden, und dass ein Krimi scheinbar immer ernst zu sein hat. Der Münchner Tatort vermeidet das, meint er, und so empfinde ich es auch. Aber leider scheint es nur diese beiden Alternativen zu geben: die von ihren jeweiligen Privatsituationen stark belasteten, völlig freudlosen Kommissar*innen, oder solche, über deren Hintergrund wir nicht viel erfahren – die aber dadurch auch Gefahr laufen, austauschbar zu sein, und deshalb mithilfe anderer altbekannter Klischees charakterisiert werden müssen. Ich führe hier als Beispiel Frank Thiel an, den die Trennung von Frau und Kind nicht mehr zu belasten scheint, und der stattdessen die Rolle des überforderten Junggesellen erfüllt. Es fällt dem Tatort schwer, neue und frische Figuren hervorzubringen, die eine individuelle Geschichte haben, und trotzdem auch mal fröhlich sind. Und darin besteht vielleicht das eigentliche Problem, wenn es um die Frage geht, warum das Programm das junge Publikum nicht anzieht.
Man kommt nicht umhin, den Tatort tendenziell als konservativ zu bezeichnen. Oft sind traditionelle Kernfamilien zu sehen, oder „alte weiße Männer“ in Führungspositionen, während alles scheinbar Neue, Ungewöhnliche, grundsätzlich als suspekt behandelt wird. Die Kommissar*innen spiegeln hier in ihren Aussagen oft das, was an Gedanken vom Tatort-Durchschnittspublikum erwartet wird. Polyamorie? Nie gehört. Intersexualität? Ganz klar ein großes Drama. (So stellt es zumindest der Münster-Tatort Zwischen den Ohren aus dem Jahr 2011 dar.) An Themen wie Homosexualität wurde sich inzwischen so weit angenähert, dass darum im Film nicht mehr so viel Lärm gemacht wird, aber alles andere, was einem cis-heteronormativen, eurozentrischen Weltbild nicht entspricht, muss ausführlich problematisiert werden. Und das, obwohl es in unserer Gesellschaft oft schon festen Bestandteil hat. Der Kulturwissenschaftler und Tatortexperte Hendrik Buhl bringt diese Schwierigkeit des Tatorts wunderbar auf den Punkt. In einem Interview mit Stephanie Rhode vom Deutschlandfunk erklärte er, dem Tatort werde ein „seismographische[r] Charakter für Werte und Normen“ nachgesagt, aber er betont auch, dass diese gesellschaftliche Gradmessung durch die Kriminalfilmreihe mit einer Verzögerung einhergeht. Weiter macht er deutlich: „Im Tatort ist abzulesen, was eigentlich schon sag- und wissbar ist, und zustimmungsfähig und auch zustimmungspflichtig.“ Damit spricht Buhl, der an der Universität Regensburg am Lehrstuhl für Medienwissenschaft tätig ist, in meinen Augen genau den Punkt an, der den Tatort für ein junges Publikum unattraktiv macht. Die Filme hinken in der Zeit zurück, sind nicht progressiv, sondern kauen ausführlich das durch, was für Jugendliche und junge Erwachsene schon bekannt und selbstverständlich ist. Und was die junge Zielgruppe eigentlich sehen möchte, das findet man im Internet schnell heraus. Denn es gibt sie ja doch, die jungen Tatort-Fans, und ein paar von ihnen machen ihre Vorstellungen in Form von Fanfictions oder Fanvids öffentlich. Allein schon die große Zahl an homosexuellen Beziehungen, für die junge Menschen in den aktuellen Tatort-Teams Potential sehen, spricht für sich.
Natürlich hat sich der Tatort in seiner nunmehr über 51-jährigen Existenz sichtbar gewandelt. Wir sehen nicht mehr so viele Straftäter mit Migrationshintergrund – sondern sogar weniger, als es die Polizeiliche Kriminalstatistik in der Realität verzeichnet, womit man sich sicherlich auch kritisch auseinandersetzen könnte – und die Zeiten, in denen Kriminalfälle nur im Rotlichtmilieu oder in der Welt der Reichen spielen, sind auch vorbei. 1978 tauchte die erste weibliche Kommissarin auf und blieb drei Folgen lang, Ulrike Folkerts als Lena Odenthal ermittelt seit 1989 und ist immer noch im Dienst. Mit Liz Ritschard aus der Schweiz und Robert Karow aus Berlin gibt es immerhin zwei bisexuelle Ermittler*innen, und seit 2019 ist in Göttingen die erste Kriminalhauptkommissarin mit dunkler Hautfarbe im Dienst, dargestellt von Florence Kasumba. Das sind Schritte in die richtige Richtung – aber es wäre noch so viel mehr möglich, um die Plattform dieses etablierten deutschen Fernsehformats zu nutzen, und deutliche Zeichen für Diversität und Toleranz in unserer Gesellschaft zu setzen. Und das am besten ohne den üblichen Hang zur Überproblematisierung, sondern mit einer mutigen Selbstverständlichkeit. Das würde junge Zuschauer*innen anlocken, und dem Tatort jetzt und auf lange Sicht guttun.
Zum Schluss möchte ich aber nochmal betonen: Bei all der Kritik bin ich trotzdem Tatort-Fan, und es gibt einige Folgen, die sich wirklich lohnen. Deshalb möchte ich euch gerne meine persönlichen Tatortempfehlungen ans Herz legen – vielleicht kommt ja jemand von euch auf den Geschmack:
- Aus München empfehle ich, wenn ihr Lust auf etwas eher Unterhaltsames habt, Liebe, Sex und Tod (1997), Gefallene Engel (1998) und Der Traum von der Au (2007). Wirklich packend und dafür auch deutlich ernster sind Nie wieder frei sein (2010) und Die Wahrheit (2016).
- Wenn ihr gerne den Münsteraner Tatort seht oder damit beginnen möchtet, schlage ich vor, direkt mit dem ersten Film des Teams anzufangen, der in meinen Augen auch der Beste ist – Der dunkle Fleck (2002).
- Falls ihr euch schließlich für die Entwicklung des Tatorts interessiert und mal in ältere Folgen reinschauen möchtet, dann empfehle ich euch Klassiker wie die allererste Folge, Taxi nach Leipzig (1970), oder natürlich Reifezeugnis (1977), eine der am häufigsten wiederholten Folgen, die Nastassja Kinski dem deutschen Fernsehpublikum bekannt machte. Auch die singenden Kommissare Stoever und Brockmöller gelten als legendär. In der ARD-Mediathek sind zurzeit außerdem die beliebten Folgen mit Kommissar Horst Schimanski zu sehen, in HD restauriert.
Und natürlich gibt es noch viele weitere Teams und Folgen, die Spaß machen und euch vielleicht gefallen könnten. Oder auch nicht! Aber schaut doch einfach mal rein – für mich hat es sich gelohnt.