躺平 (Tangping/Flachliegen) nennt sich eine populäre Widerstandsbewegung der chinesischen Jugend. Immer mehr junge Menschen in China lehnen das System aus akademischem Leistungsdruck, harter Arbeit und Überstunden ab. Beim Flachliegen geht es jedoch nicht darum zu faulenzen, sondern seinen eigenen Weg zu gehen. Sich nicht zum Werkzeug zu machen. Auch wenn man dadurch zum Außenseiter wird.
Tangping hat viele Gegner. Der Staatspräsident Xi Jinping selbst protestiert gegen die Bewegung. Ein glückliches Leben sei Ergebnis harter Arbeit, mahnte er.
Die Bewegung startete aufgrund eines Essays des Tausendsassas Luo Huazhong, der 2021 erschien. Seine Kernaussage: Lebt für den Moment. Überlegt, was wirklich zählt. Die Wellen, die das Essay schlug, waren gewaltig. Das wundert nicht: Als das chinesische Wirtschaftswunder an Fahrt aufnahm, machte es traumhafte Karrieren möglich – wie aus dem Märchenbuch des Kapitalismus. Diese Zeiten sind jedoch vorbei. Studien zeigen, dass immer weniger Chinesen der soziale Aufstieg vom unteren Fünftel ins obere Fünftel gelingt. Die Mittelschicht und die Unterschicht haben das Gefühl zu stagnieren.
Viele Chinesen reagieren auf die schwindenden Aufstiegschancen mit mehr Druck. Auf sich selbst, auf ihre Kinder. Schon Neunjährige haben einen Lebenslauf vorzuweisen, viele praktizieren die verbotene 996 Woche; von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends arbeiten, 6 Tage die Woche.
Soziologe Xiang Biao berichtet: „Ich kenne in Deutschland auch Friseurinnen und Handwerker, die glücklich sind und ein gutes Leben haben. In China existiert diese Art von Pluralismus nicht. Alle streben nach demselben Ideal von Erfolg.“ Und da setzt der Film Everything Everywhere All At Once (2022) an.
Der aus China immigrierten Evelyn (Michelle Yeoh) ist der Aufstieg ins obere Fünftel der Gesellschaft nicht gelungen. Sie besitzt zusammen mit ihrem Mann Waymond (Ke Huy Quan) einen Waschsalon, der kurz vor der Pleite ist. Ihre Ehe ist nicht mehr so glücklich, wie sie mal war und steht kurz vor dem Ende. Auch die Beziehung zu ihrer Tochter Joy (Stephanie Hsu) bröckelt: Dass Joy auf Frauen steht, scheint trotz Evelyns Akzeptanz zwischen ihnen zu stehen. Und zu allem Überfluss kommt Evelyns Vater aus China zu Besuch – enttäuscht von den Entscheidungen seiner Tochter.
Der Wunsch, bestimmte Entscheidungen rückgängig machen zu können und dadurch gegebenenfalls ein vollkommen anderes Leben führen zu können, ist ausschlaggebend für Everything Everywhere All At Once. Die Theorie, dass jede Entscheidung ein Paralleluniversum kreiert, das in jede erdenkliche Richtung gehen kann, wird auch im Film aufgegriffen. Die Version von Evelyn, die wir im Film kennenlernen, ist die erfolgloseste aus allen möglichen Multiversen, wird uns gesagt. Denn in allen anderen Paralleluniversen ist Evelyn etwas besonderes: sei es Filmstar, Wissenschaftlerin, Chefköchin. Unsere Evelyn scheint die schlechtmöglichsten Entscheidungen getroffen zu haben und ist die einzige, die keinen Erfolg vorzuweisen hat. Aber sie hat immerhin durch eine Technologie aus dem „Alpha-Verse“ die Möglichkeit, auf das Skillset ihrer parallelen Versionen zuzugreifen – und somit Jobu Tupaki zu bekämpfen, die dabei ist, Universum nach Universum zu zerstören.
Everything Everywhere All At Once ist ein Meisterwerk innovativen Chaos. Die kreativen Möglichkeiten der multiplen Universen, die in jegliche Richtung gehen können, werden voll ausgenutzt. Keine Szene und keine Wendung kann vorausgesehen werden. Die unkonventionellen Antworten auf Konflikte lassen die Zuschauerschaft entweder laut auflachen oder rühren sie zu Tränen. Der Film selbst ist eine Hommage an das Kino: Liebevoll werden alle vielfältigen Möglichkeiten der Bildkunst ausgenutzt, Bildformate und Styles werden gewechselt, andere Filme werden zitiert, die Albernheit des Films übertrifft sich in jeder neuen Szene.
Everything Everywhere All At Once ist ein Action Film. Aber keiner, der sich auf seine Action verlässt und die Hauptfiguren untergräbt. Im Gegenteil: Die Bindung, die man zu den wichtigsten Figuren aufbaut, ist untypisch stark für einen Film dieses Kalibers. Interpersonelle Konflikte immigrierter Familien werden ohne Überdramatisierung verhandelt. Insbesondere die Beziehung zwischen Eltern und Kind und den Erwartungen, die gestellt werden, werden rührend aufarbeitet. Die Wichtigkeit der Familie wird auf herzerwärmende Art Fokus des Films. Ein Fokus, der genau in die Zeit der Widerstandsbewegung Tangping passt:
Weg von Leistungsdruck und Eigeninnovation hin zu familiärer Liebe und Dankbarkeit. Wie Huazhong schon meinte: Überlegt, was wirklich zählt. Reichtum und Erfolg allein machen nicht glücklich.