Cindy Sherman – Unabsichtlicher Feminismus

Neulich habe ich auf dem Flohmarkt ein Buch über Künstlerinnen des 20. und 21. Jahrhunderts erstehen können. Es war ein kleiner Glücksgriff, denn der Band entpuppte sich als eine spannende Sammlung sehr unterschiedlicher und prägnant geschilderter Künstlerinnenbiografien. Beim Lesen blieb ich zwischen bekannten Namen wie Niki de Saint Phalle oder Marina Abramović und anderen, die mir nicht geläufig waren, schließlich bei Cindy Sherman hängen. 

Die US-Amerikanerin, 1954 in New Jersey geboren, ist seit Jahrzehnten als Künstlerin und Fotografin in der internationalen Kunstszene unterwegs. Bei einem Großteil ihrer Werke handelt es sich um fotografische Selbstportraits, in denen sie sich mit verschiedenen Entwürfen von Weiblichkeit auseinandersetzt. In ihren Untitled Film Stills von 1977, mit denen sie erstmals internationale Beachtung erhielt, inszeniert sie sich beispielweise in stereotypen Frauenrollen, wie sie in B-Movies oder im Nouvelle-Vague-Kino der 1950er-Jahre hätten vorkommen können. Die History Portraits (1988-90) sind fotografische Arrangements im Stil der alten Meister, in denen Sherman Bilder von Frauen in der Kunstgeschichte nachstellt und sich auf die Suche nach der wahren Identität der idealisiert dargestellten Personen begibt. In ihrem späteren Schaffen beschäftigt sie sich mit klischeehaften Schönheitsidealen und Fetischismus und bezieht auch den Bereich des Grotesken und Hässlichen in ihre Fotografien mit ein. In der Serie Sex Pictures von 1992 arbeitet sie etwa mit Sexpuppenteilen und zeigt auf, dass der weibliche Körper ständig Gefahr läuft, zu einem Schauplatz von Horror und Zerstückelung zu werden.

Im Zentrum von Cindy Shermans Kunst stehen Rolle und Identität der Frau sowie die Entlarvung des (männlichen) Blicks, mit dem der weibliche Körper seit jeher betrachtet wird. Dennoch bezeichnet Sherman sich und ihr Werk nicht als explizit feministisch. Im Jahr 2003 äußerte sie sich in einem Interview für die Website Tate Online der britischen Tate-Galerien vielmehr folgendermaßen:

„The work is what it is and hopefully it’s seen as feminist work, or feminist-advised work, but I’m not going to go around espousing theoretical bullshit about feminist stuff.“

Besonders ihre frühsten Fotografien wie die Untitled Film Stills waren laut Sherman keine feministischen Kommentare, wie sie in einem anderen Interview aus dem Jahr 1991 betont. Ihr sei nicht bewusst gewesen, dass sie damit aktuelle feministische Fragestellungen aufgreife, und sie habe sich auch nie mit feministischen Theorien auseinandergesetzt oder sei wissentlich von diesen beeinflusst worden.

Von anderen werden in Shermans Kunst jedoch klare feministische Botschaften identifiziert. Die Filmtheoretikerin Laura Mulvey, die in ihrem Essay Visual Pleasure and Narrative Cinema aus dem Jahr 1975 den Begriff des „male gaze“ geprägt hat, setzte sich beispielsweise intensiv mit den Werken von Cindy Sherman auseinander. In A Phantasmagoria of the Female Body: The Work of Cindy Sherman (1991) beschreibt sie die Untitled Film Stills als Parodien auf den Voyeurismus der Kamera im amerikanischen Hollywood-Kino der 50er-Jahre. Mulvey erklärt, dass Sherman sich als eine Frau inszeniert, die nur mit Mühe dem ihr auferlegten Ideal folgen kann, wodurch ein Gefühl des Unbehagens entsteht:

„The accoutrements of the feminine struggle to conform to a facade of desirability haunt Sherman‘s iconography. […] Sherman-the-model dresses up into character, while Sherman-the-artists reveals her character’s masquerade. The juxtaposition begins to refer to a ‘surface-ness”, so that nostalgia begins to dissolve into unease.”

Zudem werden die von Sherman dargestellten weiblichen Charaktere auf ihren Fotos in ungeschützten, privaten Momenten gezeigt. Laut Mulvey fühlen sich die Betrachtenden dadurch in ihrem Schauen unwohl. Aufgrund des fehlenden inszenierten Exhibitionismus der abgebildeten Frauen wird man sich schlagartig seines eigenen Voyeurismus bewusst.

Cindy Shermans Auseinandersetzung mit verschiedenen Entwürfen von Weiblichkeit wird zudem auch als die Verweigerung von einem eindeutigen Frauenbild interpretiert, und ihr Werk insgesamt kann als ein Versuch gelten, als Frau eigene Abbilder von Weiblichkeit aus einer weiblichen Perspektive heraus zu schaffen. Obwohl ihren Fotografien keine feministische Absicht innewohnt, so öffnen sie doch vielfältige Möglichkeiten für feministische Interpretation. In jedem Fall regen sie dazu an, gewohnte Darstellungen von Weiblichkeit zu hinterfragen und den eigenen Blick kritisch zu überdenken.


Einen Einblick in Cindy Shermans Kunst gibt es auf der Website des Museum of Modern Art: https://www.moma.org/artists/5392

Bei dem zu Beginn erwähnten Buch handelt es sich um Women Artists – Künstlerinnen im 20. und 21. Jahrhundert, das 2003 im Taschen-Verlag erschienen ist. Das Buch ist nur noch gebraucht erhältlich, aber kann beispielsweise in der Kölner Stadtbibliothek ausgeliehen werden – ein Blick hinein lohnt sich meiner Meinung nach sehr.