Filmklassiker – Unsere liebsten Filme 2022

Ein weiteres Filmjahr ist vorbei und hat uns einige Streifen beschert. Aber welcher war der beste? Die Autor*innen der Medienredaktion haben sich darüber Gedanken gemacht und präsentieren, welcher Film sie am meisten begeistert hat. Viel Spaß beim Lesen! Vielleicht entdeckt ihr einen Film, den ihr bisher noch nicht auf dem Schirm hattet.

Triangle of Sadness: Ein satirischer Kommentar zum kontemporären Kapitalismus

Triangle of Sadness ist eine wilde Satire über den modernen Kapitalismus, geschrieben und unter der Regie von Ruben Östlund. Die Essenz des Filmes ist klar und offensichtlich: Der Kapitalismus ist ein bizarres System, das einen Teil der Bevölkerung auf absurde Ebenen der Handlungsmacht erhebt und einen anderen Teil zu abhängigen, sklavenähnlichen Bediensteten verdammt. Das Setting von Triangle of Sadness ist eine Yacht, gefüllt mit einer Elite korrupter Menschen, die sich, ihres extremen Reichtums bewusst, ölbeschmiert und privilegiert in der Sonne räkeln und gegenseitig fotografieren. Ihnen gegenübergestellt sind in der absurden Szenerie vernünftig wirkende Bedienstete, die gezwungen werden, während ihrer Arbeitszeit alles stehen und liegen zu lassen, um schwimmen zu gehen – kurz danach aber wieder Erbrochenes aufwischen müssen. Die zwei Hauptfiguren sind das Paar Carl und Yaya; eine Influencerin und ein Model, die noch nicht ganz entschieden haben, wie sie in der modernen Gesellschaft mit ihren Geschlechterrollen umgehen wollen.

Triangle of Sadness hat Auge fürs Detail. Die Bilder sind wunderbar kompositioniert und die Schauspielerei ist grandios. Jeder Shot, jeder Gesichtsausdruck, jede nervige Fliege im Hintergrund wurde sorgfältig platziert und erzählt etwas über die Figur oder unterstreicht eine Aussage des Autors. Eine Aussage, die keineswegs unterschwellig eingebaut wurde. Ganz im Gegenteil: Die Ansichten des Regisseurs zu den Themen Kapitalismus, Kommunismus und Klassismus werden den Zuschauer*innen direkt und unverblümt mitgeteilt. So lesen sich zwei Figuren in einer Szene abwechselnd Zitate berühmter Kapitalisten und Marxisten vor.

Der dritte Akt des Films dreht die Machtstellung zwischen Schiffsgästen und Bediensteten auf den Kopf. Hier wird klar, dass Östlund augenscheinlich keine Alternative zu einer hierarchischen Gesellschaft sieht: Selbst nach einem Schiffsbruch entsteht kein Kollektiv, sondern es setzten sich erneut Machtdynamiken durch – wenn auch konträr zu dem vorangegangenen Akt des Films. Östlund kommentiert in diesem letzten Akt die Fehlerhaftigkeit der Menschen – unabhängig vom Kontostand – und ihren unstillbaren Hunger nach Macht.  

Triangle of Sadness ist extrem unterhaltsam, bizarr, wild, und zuweilen unappetitlich bis ekelerregend. Der Film wurde unter andern bei den Oscars für Bester Film, Bestes Originaldrehbuch und Beste Regie nominiert.  Triangle of Sadness polarisiert jedoch sehr in seiner Rezeption. Für manche Zuschauer*innen ist Triangle of Sadness eine der besten Komödien des Jahres. Dies kommt jedoch darauf an, wie sehr man auf Fäkalien-Humor und latent ableistische Witze steht. Östlund kritisiert zu Recht ein korruptes und fehlerhaftes System, bringt aber laut Kritiker*innen keine neuen Eindrücke oder Argumente hervor. So hat auch Carl und Yayas Streit betreffend ihrer Geschlechterrollen keine Auflösung oder Erkenntnis zu bieten.

Das einzige Gefühl, das Triangle of Sadness in der Zuschauer*innenschaft auslöst, ist Schadenfreude. Das liegt unter anderem daran, dass lediglich die Reichsten der Reichen kritisiert werden. Inwiefern die Mittelschicht – also die Zuschauer*innen – ebenfalls in das korrupte System reinspielen, wird nicht thematisiert. Man verlässt das Kino, sich selbstgefällig auf die Schulter klopfend, froh, dass man dieses Jahr auf keiner Yacht zugange war oder Waffen verkauft hat. Dass man aber vielleicht schon wieder nach Mallorca geflogen ist, wird vergessen. Dennoch kann der eindrucksvolle Film rege Diskussionen über Machtdynamiken, Geschlechterrollen, soziale Ungerechtigkeit und Systemfehler anregen – wenn auch etwas abseits von der eigenen Realität. – Ivana

Three Thousand Years of Longing

Mit dem ersten gesprochenen Satz eröffnet uns Three Thousand Years of Longing alles, was wir über diesen Film zu verstehen haben. Alithea, die einsame Literaturwissenschaftlerin, erzählt ihre Geschichte in der Form eines Märchens. Die Ereignisse sind wahr, doch lassen sie sich nur durch eine solche Erzählung begreifen. Die Bedeutung steckt in den Geschichten selbst und in den Beziehungen, die wir zu ihnen knüpfen. Alithea trifft in einem Hotelzimmer in Istanbul auf einen Djinn, der ihr drei Wünsche gibt. Da sie darauf besteht, kein Begehren nach Wünschen zu haben, erzählt der Djinn ihr seine Lebensgeschichte. Von seiner Gefangenschaft in der Flasche, bis zu einer seiner großen Liebschaften, erstreckt sich die Geschichte über tausende Jahre und offenbart uns nicht nur eine Faszination für die Geschichten selbst, sondern auch die Einsamkeit des Lebens, welches die beiden verbindet. Idris Elba und Tilda Swinton brillieren in dem Film in den Hauptrollen, während George Miller seine Versatilität einmal mehr unter Beweis stellt. Den Mad Max Regisseur erkennt man zwar in seiner visuellen Sprache vollends wieder, doch weiter entfernt von dessen wuchtigem Adrenalinrausch könnte Three Thousand Years of Longing nicht sein. Doch es ist mehr als nur ein sanfter Zwischenschub bevor er zu der actiongeladenen Welt zurückkehrt. Der fantasievolle und durch wehmütige Töne erzählte Film ist ein meisterliches Werk ganz seiner Art.

Three Thousand Years of Longing ist ein expressionistischer Film, die Geschichten sind auf wunderschöne Weise erzählt, und geben dem Kameramann John Seale alle Gelegenheit dazu, sowohl das Hotelzimmer als auch die Palasträume, in denen sich das Leben des Djinns abspielte, prächtig in Szene zu setzen. Durch die grandios eingesetzten visuellen Effekte verschwimmt dabei das Reale mit dem Psychedelischen. Der Film ist eine emotionale Reise durch Raum und Zeit, eine endlose Schleife, wie auch die endlos verflochtenen Straßen, die zu einem der beeindruckendsten Bilder des Filmes gehören. Der Mensch strebt nach Beziehungen untereinander und es sind die Geschichten, die uns miteinander verbinden, uns gar zusammenbringen und einen großen Einfluss auf das Weltbild und die Emotionen des Lebens nehmen können. Three Thousand Years of Longing ist ein Film über zwei einsame Figuren, die über diesen Weg zusammenfinden, ruhig und bedacht erzählt, wie ein Märchen, das einem vorgetragen wird. Der Film erinnert mich an den Ton einer Gute-Nacht-Geschichte. Spannende Geschichten, von Palästen mit Königen, Kriegen und tragisch scheiternder Liebe, aber im milden Ton erzählt und ein Ende, mit dem wir uns besser über die Welt fühlen und gemächlich einschlafen können. Three Thousand Years of Longing  ist für mich nicht nur ein unterschätzter, sondern auch einer der besten Filme des Jahres. – Marius

Aftersun: Eincremen gegen die Dämonen

Im Grunde erzählt Aftersun nur von einem vergangenen Vater-Tochter-Urlaub in der Türkei. Calum (Paul Mescal) und Sophie (Frankie Corio) sind in eine Touristenfalle reingetappt, die sich als Ferienhotel tarnt. Hier treffen sich Leute, die einen heißen Sommer haben, aber nicht von der Fremdheit des Urlaubsortes gestört werden wollen. Überall ist der schottische Akzent zu hören. Dieses verpönte Klischee dient als Ablenkung. Die sanften Farben und das Geplätscher am Pool lullen das Publikum ein. So sieht man erst beim zweiten Hinschauen, was wirklich vor sich geht. Auch die beiden Hauptcharaktere verbergen ihre Probleme meisterhaft. Sie wollen unbedingt versuchen, einen wunderschönen, gemeinsamen Urlaub zu verbringen. Die peinlichen Entertainments zum Abendessen geben Vater und Tochter aber eine kleine Heldengeschichte: Sie lehnen sich auf gegen das absurde System „Pauschalurlaub“. Sie werfen Steine, tanzen auffällig aus der Reihe und sind in ihrer Dynamik erfrischend unkonventionell. Der junge Vater, der beinahe wie ein großer Bruder gegenüber seiner reifen, aber doch erst 11-jährigen Tochter wirkt. Sie sind ein Team.

Das unterstreicht der Film besonders in den vielen Szenen, in denen Calum und Sophie sich gegenseitig eincremen. Der Titel Aftersun kitzelt bereits so in der Nase, dass man im Kinosaal vermeintlich eine Brise von Schweiß und sonnenschwerer Haut wahrnimmt. Die beiden Hauptcharaktere machen das Eincremen zu einem Ritual. Sanft und routiniert wird insbesondere das Gesicht eingefettet. Calum und Sophie zeigen uns so ganz nebenbei, was für eine enge Verbindung sie haben. Das Eincremen, ob mit Aftersun, Sonnencreme, oder Schlamm, schafft intime Momente zwischen Vater und Tochter, in denen keine Worte mehr nötig sind. So lässt Aftersun viel Raum für Interpretation und Identifikation im Publikum entstehen.

Den schafft ebenfalls der Charakter Sophie. Wenn man Frankie Corio (Sophie) dabei zuguckt, wie sie die älteren Kinder beim Flirten beobachtet oder vergnügt in die Wellen springt, ruft das in einem selbst kindliche Gefühle wach. Als erwachsene Person vergisst man schnell, wie es ist, Kind zu sein. Die Kindheit scheint wie ein weit entferntes Universum, ein Film, der lückenhaft im eigenen Hinterkopf läuft. Diese Ästhetik übernimmt Regisseurin Charlotte Wells in Aftersun. Der Vater-Tochter-Urlaub wird dauerhaft mit einem CamCorder aufgenommen. Und so flimmern im 90er-Jahre-Stil Bilder über den Bildschirm, die gleichzeitig das „Dort“ und das „Ganz-Wann-Anders“ zeigen. Die Zeitlichkeit verschwimmt: Was ist in diesem Urlaub passiert, was wurde von der Kamera aufgenommen und was sind nur Erinnerungen der älteren Sophie? Dadurch keimt ein Gefühl des Abschieds auf. Sophies Vater Calum lebt schon in Erinnerungen, die er eben erst erschaffen hat. Die ältere Sophie sucht in den Filmen, in ihren Erinnerungen, nach ihrem Vater. Und sie trauert um ihn.

Diese Mehrdeutigkeit prägt die Darstellung von Frankie Corio. Sie ist niedlich und verspielt und bringt dann plötzlich alles, womit man glaubte, sich identifizieren zu können, ins Wanken. In einer Szene erklärt sie Paul Mescal: „Sometimes I feel a bit down or something“, und dass sie nach einem tollen Tag manchmal das Gefühl hat, unterzugehen, weil sie sich so schwer und müde fühle. Da ist nichts mehr von der Leichtigkeit zu spüren, die kurz vorher noch geherrscht hat. Kindsein bekommt durch Sophie eine neue, tiefe Ebene. „Das Kind“ wird zu einem ernstzunehmenden Charakter und einer Identifikationsfläche für facettenreiche Emotionen. Plötzlich ist das Kind nicht mehr regellos und voller Möglichkeiten, ihm werden die Grenzen aufgezeigt. Nicht-dazugehören, Nicht-gesehen-werden, Nicht-helfen-können. Die Unbeschwertheit wird getrübt. Ihr Vater Calum hört seiner Tochter zu und scheint zu zerbrechen. Seine Tochter scheint genau das Gefühl zu beschreiben, das ihn umtreibt.

Genau das, dieses Zwischenspiel von Freude und Tragik, von Leichtigkeit und Beklemmung, lässt das Publikum aufgewühlt und durcheinander im Kinosaal zurück. Aftersun stößt einen ganz persönlichen Prozess in einem an. Die eigenen Erfahrungen lassen sich so gut in diesen Film einweben, dass man das Gefühl hat, selbst dabei gewesen zu sein. Ob es nun Tränen sind, die Aftersun in einem auslöst oder nur ein starkes Stirnrunzeln: die Geschichte von Calum und Sophie berührt. Und lässt einen ganz nebenbei wieder auf heiße, träge Sommertage hoffen. – Frida