Bericht von der 75. Berlinale – Zwischen Hollywood-Nachahmung und kulturpolitischer Relevanz

Roter Teppich, Glanz und Abendroben – sie bilden das Klischee in den Medien, wenn Berichterstattung über die Berlinale stattfindet. Ein Filmfestival auf den Stelzen von Armani, Cupra und Mastercard – Schmuck, teure Autos und volle Konten. Ich frage mich, was sich hinter den Schlagzeilen über Hollywood-Gesichter und Palast-Geschrei verbirgt. Wie ist es wirklich, ein Filmfestival zu erleben? Mit dem Ethos, politische Haltungen zu äußern und Perspektiven zu teilen, kommt mir das Fest, indem Agglomerationen aus Werbungen und Mainstream im Vordergrund stehen, zunächst fragwürdig vor.

Berlinale-Palast von oben (Foto: Emma Kohnen)

Nehme ich euch, zukünftige Interessent*innen, von vorne an mit: Im November habe ich einen begehrten Platz für die Exkursion zur Berlinale erhalten. Ein knappes Sortiment von 15 Studierendenakkreditierungen stellt die Universität zu Köln jährlich zur Verfügung. So kommt es, dass ein voller Hörsaal um die bevorstehende Auslosung bangt und auch ich leer ausgehe – vorerst – denn mit einem Wartelistenplatz habe ich nachträglich einen Platz ergattert. Dieser war mit Vorsicht zu genießen, da die Finanzierung und die Organisation durchaus zu wünschen übrig ließen. Denn diese Medienpraxis ist keine Exkursion im Stil einer Klassenfahrt: Alle Kosten sind selbst zu tragen und Ankunft, Sichtungen und Transporte sind selbst zu organisieren. Zwischen grenzenloser Planungsfreiheit und absolutem Unwissen stehe ich also im Februar vor den Toren des Zoopalastes und bin ungewiss, wie sich dieses Erlebnis anfühlen wird.

Der Donnerstag ist ein Tag für Anreise, Eröffnungsgalas und Premieren: Für mich ist er ein ausklingender Infekt mit Blick aus dem Airbnb. Die Angst, den ersten Zauber zu verpassen, wird spürbar. Überall im Web sehe ich Fotos von Besucher*innen: Einige posieren mit Prominenz, andere loben oder kritisieren die ersten Sichtungen des vielversprechenden Programms der nächsten zehn Tage. 

Jeden Tag laufen über hundert Filme in ganz Berlin. Selbst wenn man glücklich ist und Platz für den Wunschfilm ergattert, verpasst man an anderer Stelle einen Film, den man gerne gesehen hätte. Ehe man sich versieht, verpasst man den ein oder anderen Film, trotz mehrfacher Ausstrahlung, gänzlich. Mickey 17, ein Film von Parasite-Regisseur Bong Joon-ho, ist zu jeder Vorstellung nach Sekunden ausverkauft – ich habe also keine Chance, mitzureden. Ein tägliches Bangen um Sitzplätze, die morgens um 7.30 Uhr mit halbgeschlossenen, müden Augen im Onlineshop für Akkreditierte ausgewählt werden müssen, begleitet mich. Aus dieser Routine ergibt sich aber auch eine Lernkurve, indem ich einerseits bestmöglich das Programm studiere und anderseits offen für spontane Plan B-Manöver werde. Enttäuscht werde ich selten und ich gebe zu, das Programm der Berlinale ist bemerkenswert.

Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen (Foto: Emma Kohnen)

Von „Forum Expanded“ bis zu „Retrospectives – Wild, schräg, blutig“ teilt das Fest in verschiedenen Sektionen Perspektiven für Menschen. So kommt es vor, dass ich morgens einen Krisenfilm aus Armenien sehe, dessen filmische und kaleidoskopische Abbildung von Musik und Hochzeitspraktiken die Schwere nach dem Krieg und vor dem Frieden des Landes abbildet (After Dreaming), und abends in einer feministischen 70er-Jahre-Komödie das Lachen unterdrücke, in der Männer zu Miniaturen und Sexsklaven werden (Männer sind zum lieben da). Nicht nur überprüfe ich meine Erkenntnisse, sondern schaue in die sich bildenden temporären Gemeinschaften in den magischen Wänden des Kino-Dispositives um mich herum: 

Ich sehe das Grundschulkind, welches den Umgang mit Minderheiten in der Schule neu hinterfragt, nachdem es einen Film über den Mikrokosmos Zirkus und dessen ständige, aber gewollte Rastlosigkeit sieht (Zirkuskind). Ich sehe die Frau, die sich für neuen Mut entschließt, als sie die Ausdauer von Vera Brandes erfährt (Köln 75). Ich stehe vor dem Zoopalast und denke an dessen grausame Vergangenheit, nachdem ich eine Dokumentation über Völkerschauen und Kolonialisierung anschaue, in der europäische Zoos ein schweres Erbe zu tragen haben (La Memoria de las Mariposas). 

Die Berlinale lässt nicht nur Menschen Neues sehen, sie macht Menschen sichtbar. Die Mutter wird gesehen, die durch die Liebe zu ihrem Kind mit geistiger Behinderung unsichtbare Hürden meistert (Mother’s Child). Die Minenarbeiter*innen im Kongo werden erhört, deren Arbeit westlich falsch stigmatisiert wird (Mikuba). Es wird ein Porträt eines Waisenkindes in Cork erschaffen, durch welches Familienstrukturen und Straßenkultur abgelichtet werden (Christy). Die Berlinale wird zum Ort für Erinnerungskultur für Kriegsberichte, gegenwärtige Strömungen der Gesellschaft, zur Sichtbarmachung von Empowerment und Unterdrückung, Ohnmacht und Macht. Dabei stellt sich die Frage, ob ein Filmfestival mit seiner Auswahl an Filmen nur eine Zeit ablichtet, oder sie auch verändert. 

Autogramm-Wand im Berlinale Palast, Emma Mackey aus Hot Milk (Foto: Emma Kohnen)

Ein außerordentliches Programm steht im Schatten der Hollywood-Imitation: Auf dem roten Teppich werden Kameras ausgepackt, die die Glambot Slow-Motion-Porträts der Grammy’s technisch nachahmen. Beim Browsen im Internet stoße ich unmittelbar auf „Die besten Looks“ anstatt auf Laudationen für gesichtete Filme. Die Berlinale ist pompös und laut: Inmitten von Hochhäuserbauten des Potsdamer Platzes, Werbung und Timothée-Chalamet-Plakaten streift ein quietschender Cupra auf den roten Teppich des Berlinale-Palast, aus dem die ein oder andere Prominenz steigt. Ist Luisa Neubauers Idee, politische Statements auf ein Kleid zu drucken, mehr Titelfänger als jegliches Filmerlebnis?

Ich erfahre ein paradoxes Zusammenspiel aus Art House, Dokumentationen und Mainstream, aus Haltung und fragwürdigem Sponsoring, aus Klatschen und Schweigen. Auch erlebe ich ein Zusammenkommen von Menschen, die sich für einen kurzen Augenblick von Zeit versammeln und ein Publikum bilden. Zum einen hält man das Schmunzeln des Sitznachbarn an ungünstiger Stelle aus, zum anderen ist man sich der eigenen Körperlichkeit nicht mehr bewusst und verändert in einem dunklen Raum seine Wahrnehmung. Wahrheit und Illusion vermengen sich und für einen Augenblick ist die Realität eine andere. Mit dem ‚Zauber‘ der Berlinale verbinde ich besonders den Moment des Abspanns, den keine*r zu fühlen weiß. Er ist unterschiedlicher denn je, denn jeder Film und jedes Publikum formen diesen Moment, genauso wie die individuelle Verknüpfung zum gesichteten Inhalt. Als das Lied „Douce“ von Clara Ysé im Abspann des Filmes Confidente erklingt, indem eine unterdrückte Frau unter männlichen Strukturen großen Mut beweist, kommen mir plötzliche Tränen. Als die satirische Liebeskomödie Magic Farm endet, bin ich direkt im fiebrigen Gespräch mit meiner Kommilitonin, da ich so viel zu sagen habe.

Und wenn man sich eine Premiere oder eine Vorstellung mit Anwesenheit der Filmschaffenden ergattert, kann man sich auf ein Q&A freuen, in dem auch das Publikum Fragen zum Film stellen kann. Oft ist es sehr eindrucksvoll, wie spezifisch und persönlich die Fragen werden. Amüsant ist auch die Schulklasse, die im versammelten Kino nach dem finanziellen Gewinn des Filmes fragt – bloß kein Blatt vor den Mund nehmen! Beeindruckt bin ich von der demografischen Vielfalt in den Kinosälen, in der sich Jung und Alt aus aller Welt internationale Filme anschauen.

Filmtheater Colosseum (Foto: Emma Kohnen)

Letztlich lässt sich die Berlinale nicht ohne ihren Veranstaltungsort Berlin betrachten. Wer von Kino zu Kino reist (und das bei ÖPNV-Streiks, Schnee und Minusgraden), atmet den Trubel von gestressten Rezipierenden und vollen Imbissbuden ein. Auch verlagert sich die ein oder andere Diskussion in die Kneipe oder ins Café. Die Stadt leuchtet mit Berlinale-Logos, Filmpostern und Armani-Schaufenstern. Das wahre ‚Highlight‘ ist eine Frau im Bus, die von oben bis unten in Berlinale-Merchandise eingekleidet ist. Ihre Geschichte ist wohl eine ganz andere als meine, da jede*r andere Filme schaut und andere Emotionen erlebt. 

Akkreditierung, Flyer, Postkarten, Programmheft (Foto: Emma Kohnen)

Meine Geschichte und mein Berlinale-Erleben enden mit einem Plädoyer für Kulturveranstaltungen wie die Berlinale, trotz der zurecht entstehenden Eklats und dem kommerziellen Charakter. Ich wünsche mir, dass insbesondere die Besucher*innen ihren Fokus auf das Fest verschieben und sich hinter dem Glanz und dessen Schlagzeilen mit den Porträts von Lebensrealitäten und wunderbarer Fiktion, die die Berlinale und deren Auswahlkomitee sorgfältig nominiert, beschäftigen. Die Berlinale bietet seit 75 Jahren einen Raum, in dem Kinokultur zelebriert und aufrechterhalten wird, und in dem Besucher*innen berührt werden, Regisseur*innen sich Träume erfüllen und Schauspielende sich präsentieren: „I watched this festival […] and dreamt of coming to a place like this. I love film festivals“, so Saltburn-Schauspieler Jacob Elordi, als er vor meiner Nase interviewt wird und sich über die Leidenschaft für Filmkultur äußert. Ein Festspiel aus Passion, politischer Haltung und purem Durcheinander:  Intendantin Tricia Tuttle plädiert für genau diesen Charakter und die internationale Relevanz der Berlinale, die offene Diskurse ablichtet und in Wahlkampfzeiten für Demokratie spricht.