Wer kennt sie nicht: die Grübelei darüber, ob die Auseinandersetzung mit bestimmten Inhalten im Studium überhaupt etwas bringt. Grade bei der Beschäftigung mit verschiedenen Medientheorien, die sich auf die unterschiedlichsten Felder spezialisiert haben, kann einem schon mal der Kopf rauchen. Dabei stellt sich natürlich vor allem die Frage nach der Relevanz und vor allem danach, wie und warum Medientheorien unseren Umgang mit Medien, besonders im Studium, so nachdrücklich prägen. Ob ich nach vier Semestern diese Fragen beantworten kann? Nun, zumindest teilweise. Was ich sicher weiß: wenn man sich beispielsweise für Film und Fernsehen interessiert und sich eine gute Grundlage aufbauen will, um später mal in diesem Bereich zu arbeiten, dann darf die Auseinandersetzung mit relevanten Theorien und Aufsätzen nicht fehlen. Wenn man dann noch der Meinung ist, dass gerade Themen wie Gender und Sexuality und das Abbauen von Vorurteilen rund um diese Teil der Filmkultur sind und weiterhin sein sollten, dann kommt man um eine Filmtheoretikerin einfach nicht herum: Laura Mulvey. Solltet ihr noch nie von Mulvey gehört haben, keine Sorge. Ich werde sie euch nun in aller Ruhe einmal vorstellen und zudem einen kurzen Einblick in ihre Arbeit geben.
Laura Mulvey wurde am 15. August 1941 in Großbritannien geboren, arbeitet im Bereich Film- und Medienwissenschaft am Birkbeck College der Universität London und ist seit 2000 Mitglied der Gelehrtengesellschaft British Academy for the Promotion of Historical, Philosophical and Philological Studies. Ihr Spezialgebiet: feministische Filmtheorie. Ihr wohl bekanntester Artikel „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ (dt.: Visuelle Lust und narratives Kino), veröffentlicht im Jahr 1975, bringt den vorherrschenden Blick auf Filmtheorie des Feminismus der 1970er Jahre auf den Punkt. So beleuchtet er hauptsächlich populäre Hollywood-Spielfilme und das Anschauen dieser als Teil des Mediums Kino und ist darauf ausgelegt, patriarchale Strukturen und die Objektifizierung der Frau im Mainstreamfilm sichtbar zu machen. Dabei bezieht sich Mulvey vor allem auf Freuds Theorien zur Psychoanalyse und Lacans Ansatz zum Spiegelstadium.
Falls ihr euch jetzt fragt, wie genau Mulveys Theorie aussieht oder solltet ihr, für den Fall, dass ihr euch schon mal mit dem Thema auseinandergesetzt habt, einen kleinen Reminder brauchen, dann kommt hier eine kurze und knappe Erklärung. In ihrem Text verbindet Mulvey Freuds Theorie über die „Male Castration Anxiety“ und die „Skopophilie“ mit den Gender-Normen des westlichen Mainstreamkinos. In Mulveys Ausführungen werden dabei verschiedene Prozesse beschrieben. Zum einen sollen Zuschauende Befriedigung durch das Betrachten anderer, meist weiblicher Figuren, als Objekt empfinden und außerdem eine eigene Libido durch das Erkennen und Idealisieren besagten Objektes entwickeln. Diese Prozesse nennt man Skopophilie und Identifizierung. Laut Mulvey werden besagte Prozesse durch das Identifizieren mit dem männlichen Protagonisten, der, ähnlich wie die Zuschauenden, im Hollywood-Film meist Frauen objektifiziert und sexualisiert, gefördert. Somit werden also nicht nur erotische Fantasien auf Frauen projiziert, sondern weibliche Figuren werden ebenfalls in eine Rolle als objektifiziertes Symbol für das meist männliche Verlangen gezwungen. Gleichzeitig werden Frauen aber auch als manifestiertes Symbol für Castration Anxiety gesehen, da sie selbst – laut traditionellem Verständnis von Weiblichkeit – keine phallischen Genitalien besitzen können und somit bei Männern ein starkes Angstgefühl davor auslösen, selbst einmal keine phallischen Genitalien mehr zu besitzen. Zuschauende, so Mulvey, wirken diesem entweder durch Voyerismus, gekennzeichnet durch das konstante Betrachten des männlichen Protagonisten beim Bestrafen und/oder Retten des „Guilty Objects“ – also der Frau – oder fetischisierter Skopophilie, das Betrachten der konstanten Bestätigung der Schönheit des Guilty Objects durch den Film und die Figuren, entgegen. Wenn euch das jetzt viel zu theoretisch und kompliziert war, dann keine Sorge, das geht vermutlich den meisten so. Wichtig ist vor allem, dass man sich eines merkt: Gemäß Mulveys Thesen nutzt der westliche Mainstreamfilm die „Gender Binary“ auf eine ganz bestimmte Weise aus. Nämlich, um Frauen auf eine Weise darzustellen, die es Zuschauenden durch den Akt des Sehens erlaubt, Frauen zu objektifizieren und sexualisieren. Da diese Art des Zuschauens hauptsächlich Männern zugewiesen wird, nennt man es den „Male Gaze“.
Diese Art der Darstellung kommt euch sicherlich bekannt vor und spätestens jetzt ist auch vermutlich klar, warum die Auseinandersetzung mit solchen Ausführungen selbst heute noch wichtig ist. Man braucht sich beispielsweise nur die aktuellen James Bond Filme anzuschauen, um zu bemerken, wie sehr männliche Figuren im Allgemeinen überwiegen und wie wenig Agency weibliche Figuren tatsächlich haben. Von der übermäßigen Sexualisierung besagter weiblicher Figuren ganz zu schweigen. Der Male Gaze spielt in solchen Filmen eine ganz zentrale Rolle, ist Teil ihres Appeals, besonders für männliche Zuschauer. Gerade deshalb ist das Erkennen und Abbauen von Vorurteilen und Ungleichheiten ohne das konstante Evaluieren von sowohl Theorie als auch der praktischen Umsetzung im Film nur bedingt möglich. Außerdem erlauben uns solche Ausführungen wie die von Laura Mulvey, spezifische Worte für allgemeine, kulturelle Prozesse zu finden.
Mulvey nutzt ihre Erkenntnisse jedoch nicht nur, um andere Filme zu kritisieren, sondern dreht auch eigene Filme basierend auf ihrer Theorie zum Male Gaze. So zum Beispiel der experimentelle Avantgardefilm Riddles of the Sphinx (1977), bei dem sowohl sie als auch ihr damaliger Ehemann Peter Wollen Regie führten. Thematisch behandelt der Film vor allem die Frage nach dem Umgang mit Mutterschaft und nach der Vereinbarung dieser mit einem Wandel des Lebensstils, der sich immer mehr von heteronormativen Familien- und Geschlechterrollen entfernt. Um den Zuschauenden den Male Gaze zu verwehren, gibt es nur eine Kameraperspektive. Bei dieser befindet sich die Kamera immer auf derselben Höhe. Sie wird während des Films ausschließlich durch 360 Grad Drehungen bewegt. Somit sieht man nur Ausschnitte der Figuren, weshalb Sexualisierung, Objektifizierung und das Empfinden von „visual cinematic pleasure“ durch die Zuschauenden nur bedingt möglich sind.
Ihre Theorie gerät jedoch in der 1980er Jahren deutlich unter Beschuss, da sie in einem starken Widerspruch zu den Theorien der Gender und Cultural Studies steht. Diese, im Gegensatz zu Mulveys Ansätzen, trauen den Konsumierenden mehr Spielräume und Agency zu. Mulvey, anstatt auf ihrer Position zu beharren, nimmt die Kritik jedoch zum Anlass, ihre eigene Position zu überdenken und veröffentlicht in diesem Zuge weitere Artikel, die den Sinneswandel widerspiegeln. Nichtsdestotrotz sind ihre Ausführungen zum Male Gaze und Objektifizierung der Frau nicht nur ein Zeitzeugnis feministischer Filmtheorie der 1970er Jahre, sondern spielen auch weiterhin eine wichtige Rolle für zeitgenössische Filmtheorie – auch wenn man sie natürlich stets kritisch betrachten sollte. Gerade deshalb ist es wichtig, sich auch heute noch mit ihren Theorien auseinander zu setzen. Denn das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern im Film besteht nach wie vor.