Tag 4 – 23. Oktober
Der vorletzte Tag des Festivals und der letzte Tag für mich. Vorneweg nutze ich noch die Gelegenheit, um eine weniger schöne Sache zu erwähnen. Bevor dieses Jahr das Festival begonnen hat, haben ehemalige Mitarbeiter*innen in einem anonymen Brief die Arbeitskultur der Festivalleiterin Dr. Martina Richter scharf in die Kritik genommen. Ohne mich größer in einem Kommentar zu äußern, halte ich es für wichtig, darauf kurz aufmerksam zu machen. Das Festival ist eine wunderbare Möglichkeit, den Menschen Kultur näherzubringen, und es lohnt sich, das als Zuschauer*in zu unterstützen. Arbeit unter guten und fairen Bedingungen muss aber selbstverständlich jeder verlangen können und die Hauptförderer des Festivals untersuchen den Fall bereits. Es bleibt zu hoffen, dass es für die Mitarbeiter*innen zufriedenstellend geklärt wird. Ein Machtmissbrauch kann einer für die Kultur stehenden Institution auf lange Sicht nur schaden.
The Seed of the Sacred Fig
Für mich war am Abend nur noch ein Film an der Reihe. Über The Seed of the Sacred Fig (Die Heilige Saat des Feigenbaums) lohnt es sich zu wissen, dass er im Geheimen in Iran gedreht wurde. Das gedrehte Material hatte man nach Hamburg geschmuggelt, wo es zusammengeschnitten wurde, und auch der Rest der Post-Produktion fand in Deutschland statt. Daher konnte Deutschland ihn auch als Wahl für den besten Internationalen Spielfilm bei den Oscars einreichen. Der Regisseur Mohammad Rasoulof ist als Gegner des Regimes bekannt und wurde nach der Fertigstellung des Films zur Gefängnisstrafe verurteilt, woraufhin er aus Iran floh. Die Hintergrundgeschichte von The Seed of the Sacred Fig ist daher brisant.
Brisant ist auch der Film, der es aber auch verdient, für sich als Werk betrachtet zu werden. Die Geschichte dreht sich um einen Ermittlungsrichter, der sich ganz in den Dienst des Regimes gestellt hat, während der Tod von Jihsa Mahsa Amini eine Protestwelle in Iran auslöst und seine Töchter zunehmend gegen das Regime aufbringt, während seine Frau versucht, den Zusammenhalt in der Familie zu bewahren. Es ist eine Geschichte über den Verlust von Vertrauen innerhalb einer Familie. Die Saat des Heiligen Feigenbaums behandelt mit viel Spannung, wie sich durch die Proteste ihr Leben verändert. Was als eine heile Familie anfängt, entwickelt sich mit jedem Gespräch zu einem angespannten Verhältnis, bei dem jedes gesprochene Wort gefährlich werden kann. Als die offiziellen Nachrichten die Proteste nur als Randale bezeichnen und das meiste verschwiegen, kann man sehen, wie die Töchter durch ihre Social-Media-Kanäle an andere Informationen kommen. Die Situation gerät zunehmend außer Kontrolle, selbst im eigenen Haus fühlt man sich nicht mehr sicher. Dies alles wird mit Finesse inszeniert und die ständige Bedrohung des Staates ist immer zu spüren. Je mehr der Vater zu staatlichen Polizeimitteln greift, um die Situation zu klären, desto größer wird sein Vertrauensverlust in seine eigene Familie. Nur ausgerechnet als der Film zu einem Ende kommen muss, lässt Rasolouf sich zu einer Eskalation hinreißen, die sich einem nie ganz erschließt. Wie sich unter dem Druck eines Überwachungsregimes die Paranoia selbst bis innerhalb der eigenen Familie erstreckt ist stark umgesetzt, doch anstatt sich darauf zu verlassen, wirken einige Handlungsentwicklungen gegen Ende zu erzwungen. Dabei erscheint dies unnötig, denn was der Film mit seiner Figurenkonstellation erreichen möchte, wäre auch ganz ohne unglaubwürdige Motivationen einiger Figuren gelungen. Das ist etwas schade, schließlich steckt in dem Film sehr viel Gutes drin. Die Saat des Heiligen Feigenbaums kommt am 26. Dezember in die deutschen Kinos.
Das Festival geht zu Ende und damit auch meine Berichte über die Filme, die ich sehen konnte. Es war nicht das Jahr mit den besten Filmen, da waren die beiden Jahre zuvor erfolgreicher. Das ist aber auch dem geschuldet, dass man mit weniger großen Namen und auch mit einer kleiner wirkenden Auswahl auskommen musste, was sicherlich auch den Streiks des letzten Jahres in Hollywood geschuldet ist. Am ehesten hätte es vielleicht noch der Palme D‘or-Gewinner Anora in die Auswahl schaffen können. Es ist einer meiner meist erwarteten Filme des Jahres und kommt aus der Festivalsaison mit am meisten Lob hervor. Doch Anora läuft auch schon ab dem 31. Oktober in den deutschen Kinos (hier also ein wenig Schleichwerbung, ich habe viel Gutes gehört). Erwartet habe ich ihn auch nicht. Alles in allem war es eine erfreuliche Filmauswahl und ich kann alle, die ich gesehen habe, weiterempfehlen. All We Imagine as Light sticht als der Höhepunkt für mich heraus.
Zum Schluss noch einmal die Filme, die ich sehen konnte, in einer Art (aber nicht zu ernstzunehmenden) Rangordnung:
- All We Imagine as Light
- The Room Next Door
- A Real Pain
- Kneecap
- The Seed of the Sacred Fig
- Grand Tour
- Bird
- The Assessment